Karl Jaspers - Piper Verlag (1947)
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keiner Weise überstürzen und ganz zufrieden sein, wenn zunächst nur 2-4 Bände
im Jahr herauskommen. Eine gute philosophische Arbeit von originaler Bedeutung
sollte aber doch unter den ersten Bänden erscheinen. Wir würden sie gerne auch
einem jüngeren Mann übertragen, wenn es nur ein wirklich produktiver Kopf ist. Ich
möchte mit diesem Band z.B. nicht eine neutrale akademische Bestandsaufnahme
der Hauptprobleme der heutigen europäischen Philosophie haben, sondern wün-
sche mir eine Arbeit, die, von einer bestimmten Weise des Philosophierens und auch
von einem inhaltlich begrenzten Thema heutiger Philosophie ausgehend, sich mutig
der verwirrenden und erschreckenden Problematik unseres Daseins stellt. Sehr wich-
tig für die Reihe halte ich auch die Gebiete Soziologie und Pädagogik. Da nach meiner
Ansicht heute eine soziologische Arbeit nicht einer bestimmten persönlichen Gesin-
nung entbehren kann, schwebt es mir vor, im Bereich dieser Wissenschaft zwei Auto-
ren zu gewinnen: einen, der mehr einen demokratischen Sozialismus vertritt und
einen anderen der neo-liberalistischen Richtung, die besonders ausgeprägt Wihelm
Röpke einnimmt. Dr. Hegemann hat erst vor einigen Tagen selbst an Röpke geschrie-
ben.96 Ich habe einige seiner Bücher mit großem Gewinn gelesen und möchte Ihnen
nochmal sehr für Ihren damaligen Hinweis danken. Wenn ich mir nach der bisheri-
gen Lektüre der Bücher von Röpke ein Urteil erlauben darf, so scheint mir seine Kri-
tik von Sozialismus und Kollektivismus insofern nicht ausreichend zu sein, als es an
einer Kritik der fundamentalen Schwächen fehlt, die den bürgerlichen Humanismus
des 19. Jahrhunderts so rapide für Nihilismus, moralische Anarchie und Totalitaris-
mus, grauenhaft verwirklicht durch die Nazis in Deutschland, reif gemacht haben.
Der Appell an die Menschen von heute, sie möchten zu den Grundlagen eines ech-
ten Liberalismus, wirtschaftlich gesehen: der Marktwirtschaft, zurückkehren, ist sug-
gestiv; gegenwärtig nimmt er sich fast revolutionär aus. Aber ich halte es, wie gesagt,
für unerläßlich, zunächst einmal zu einer Erkenntnis der Gründe und Vorgänge zu
gelangen, die die westlichen Völker zunehmend von den alten Freiheiten hinwegge-
führt haben, d.h. es scheint mir ein Studium der Elemente nötig zu sein, die in der
alten bürgerlichen Welt diese selbst mehr und mehr zersetzt haben und dem Sozia-
lismus entgegenführen. Der Gedanke bei Röpke ist sehr schön, das Proletariat durch
Kleinhäuser und Schrebergärten zu entproletarisieren, ihm den verloren gegange-
nen inneren »Halt« zu geben, die Entmassung durch eine »planvolle« Förderung von
Bauern, Handwerkern, Klein- und Mittelbetrieben aller Art anzustreben. Aber ist dies
alles ohne einen verpflichtenden metaphysischen Lebenssinn möglich? Der Osten
scheint einen solchen zu besitzen, »hinter« der Außenseite von Sowjet-Patriotismus
und panslawistischem Imperialismus. Haben nicht die letzten drei Jahrzehnte erwie-
sen, daß die Mehrzahl der Menschen eher bereit ist, auf bürgerliche Freiheiten zu ver-
zichten als auf einen allumfassenden, wenn auch eschatologisch und utopisch durch-
setzten, jedenfalls aber formulierten Lebenssinn, der den Einzelnen der heute immer
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keiner Weise überstürzen und ganz zufrieden sein, wenn zunächst nur 2-4 Bände
im Jahr herauskommen. Eine gute philosophische Arbeit von originaler Bedeutung
sollte aber doch unter den ersten Bänden erscheinen. Wir würden sie gerne auch
einem jüngeren Mann übertragen, wenn es nur ein wirklich produktiver Kopf ist. Ich
möchte mit diesem Band z.B. nicht eine neutrale akademische Bestandsaufnahme
der Hauptprobleme der heutigen europäischen Philosophie haben, sondern wün-
sche mir eine Arbeit, die, von einer bestimmten Weise des Philosophierens und auch
von einem inhaltlich begrenzten Thema heutiger Philosophie ausgehend, sich mutig
der verwirrenden und erschreckenden Problematik unseres Daseins stellt. Sehr wich-
tig für die Reihe halte ich auch die Gebiete Soziologie und Pädagogik. Da nach meiner
Ansicht heute eine soziologische Arbeit nicht einer bestimmten persönlichen Gesin-
nung entbehren kann, schwebt es mir vor, im Bereich dieser Wissenschaft zwei Auto-
ren zu gewinnen: einen, der mehr einen demokratischen Sozialismus vertritt und
einen anderen der neo-liberalistischen Richtung, die besonders ausgeprägt Wihelm
Röpke einnimmt. Dr. Hegemann hat erst vor einigen Tagen selbst an Röpke geschrie-
ben.96 Ich habe einige seiner Bücher mit großem Gewinn gelesen und möchte Ihnen
nochmal sehr für Ihren damaligen Hinweis danken. Wenn ich mir nach der bisheri-
gen Lektüre der Bücher von Röpke ein Urteil erlauben darf, so scheint mir seine Kri-
tik von Sozialismus und Kollektivismus insofern nicht ausreichend zu sein, als es an
einer Kritik der fundamentalen Schwächen fehlt, die den bürgerlichen Humanismus
des 19. Jahrhunderts so rapide für Nihilismus, moralische Anarchie und Totalitaris-
mus, grauenhaft verwirklicht durch die Nazis in Deutschland, reif gemacht haben.
Der Appell an die Menschen von heute, sie möchten zu den Grundlagen eines ech-
ten Liberalismus, wirtschaftlich gesehen: der Marktwirtschaft, zurückkehren, ist sug-
gestiv; gegenwärtig nimmt er sich fast revolutionär aus. Aber ich halte es, wie gesagt,
für unerläßlich, zunächst einmal zu einer Erkenntnis der Gründe und Vorgänge zu
gelangen, die die westlichen Völker zunehmend von den alten Freiheiten hinwegge-
führt haben, d.h. es scheint mir ein Studium der Elemente nötig zu sein, die in der
alten bürgerlichen Welt diese selbst mehr und mehr zersetzt haben und dem Sozia-
lismus entgegenführen. Der Gedanke bei Röpke ist sehr schön, das Proletariat durch
Kleinhäuser und Schrebergärten zu entproletarisieren, ihm den verloren gegange-
nen inneren »Halt« zu geben, die Entmassung durch eine »planvolle« Förderung von
Bauern, Handwerkern, Klein- und Mittelbetrieben aller Art anzustreben. Aber ist dies
alles ohne einen verpflichtenden metaphysischen Lebenssinn möglich? Der Osten
scheint einen solchen zu besitzen, »hinter« der Außenseite von Sowjet-Patriotismus
und panslawistischem Imperialismus. Haben nicht die letzten drei Jahrzehnte erwie-
sen, daß die Mehrzahl der Menschen eher bereit ist, auf bürgerliche Freiheiten zu ver-
zichten als auf einen allumfassenden, wenn auch eschatologisch und utopisch durch-
setzten, jedenfalls aber formulierten Lebenssinn, der den Einzelnen der heute immer