Karl Jaspers - Piper Verlag (1965)
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Ich meine, daß im übergeordneten Sinn des politisch-philosophischen Denkens
die konservative Haltung, die sich dem Geschehen gegenüber überwiegend zustim-
mend verhält - das scheinbar unabänderliche So-Eingetretene akzeptierend, nicht
genügt. Darin glaube ich, daß ich selbst meiner inneren Konstitution nach doch
»linkser« denke als Holthusen. Der Glaube an die Vernunft, an die Notwendigkeit aller
Schritte, die auch nur im kleinen zu einem Zustand größerer Mündigkeit der Men-
schen führen, ist unverzichtbar. Die menschliche Gesellschaft braucht Entwürfe, sie
braucht auch Pläne. Der marxistische Utopie-Überschuß - die glaubensmäßig absolut
gesetzte Aufhebung aller menschlichen Selbstentfremdung - ist durch die reale Ent-
wicklung in den hellen Köpfen überall widerlegt. Gleichzeitig hat der Marxismus dem
Denken Dimensionen erschlossen, die bleiben und die (Notwendigkeit partieller Pla-
nung zur Erhaltung und Verwirklichung von Freiheit z.B.) längst auch in die Praxis der
»bürgerlichen« Gesellschaftsordnungen übergegangen sind.
Verzeihen Sie diese Abschweifung. Zurück zu Holthusen: ich verstehe Ihr Beden-
ken, Ihre Unsicherheit. Holthusen gehört aber zu den ganz wenigen Kritikern von
Rang und persönlicher Substanz, die wir heute haben. Ein wichtiges Problem ist
natürlich für ihn, wie für uns alle: Die mit Mißtrauen zu paarende, aber zu akzep-
tierende Einsicht, daß der kommunistische Totalitarismus in seiner realen Entwick-
lung, die wir miterleben, zwar - bisher - totalitär bleibt, aber mit dem Nazi-Totalita-
rismus nicht identisch ist. Holthusen gehört zu den Mißtrauischsten gegenüber den
Sirenenklängen der Entspannung. Andrerseits ist die Entspannung eine Realität der
gegenwärtigen Weltpolitik (Amerika). Der kommunistische Glaube ist nach wie vor,
daß allgemeines Glück auf Erden erst herrschen kann, wenn alle Menschen Kommu-
nisten sind. So müssen wir beim »Reden mit den Kommunisten« wachsam bleiben.
Aber die innerdeutschen Gefahren durch die Gesinnung von Unaufrichtigkeit, Kurz-
sichtigkeit, die die Freiheit bei uns selbst bedrohen, sind ebenso Realität. Deshalb ist
die Solidarität aller notwendig, denen Freiheit wirklich die Lebenssubstanz ist. Ich
habe deshalb auch das Wagnis unternommen, zwei, auf dem literarisch-intellektuel-
len Feld, wenn man will, so gegensätzlich-politische Autoren wie Holthusen und Wal-
ter Jens unter dem Verlagsdach zu vereinen (eine psychologische Ergänzung zu Han-
nah Arendts Hinweis auf das polemische Wesen der Konservativen: die konservativ
Gesinnten bleiben häufig vereinzelt, brauchen Distanz offenbar, während die »Fort-
schrittlichen« viel mehr Solidarität pflegen, auch allerdings zur Cliquen-Bildung hin
und bis in die materiellen Interessen hinein, was aber übrigens bei der »Gruppe 47«
doch bei weitem nicht die Bedeutung hat, wie manche annehmen).
Ich muß mich noch sehr bei Ihnen entschuldigen, lieber Herr Professor, daß ich
mich in den Jahren irrte. Selbstverständlich war mir Ihr CUSANUS gegenwärtig, als
ich die kleine Rückschau hielt auf Ihre letztjährigen Ausgaben in unserem Verlag.
Irgendwie schob sich in meinem Kopf wohl 1964 und 1965 ineinander, so daß ich den
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Ich meine, daß im übergeordneten Sinn des politisch-philosophischen Denkens
die konservative Haltung, die sich dem Geschehen gegenüber überwiegend zustim-
mend verhält - das scheinbar unabänderliche So-Eingetretene akzeptierend, nicht
genügt. Darin glaube ich, daß ich selbst meiner inneren Konstitution nach doch
»linkser« denke als Holthusen. Der Glaube an die Vernunft, an die Notwendigkeit aller
Schritte, die auch nur im kleinen zu einem Zustand größerer Mündigkeit der Men-
schen führen, ist unverzichtbar. Die menschliche Gesellschaft braucht Entwürfe, sie
braucht auch Pläne. Der marxistische Utopie-Überschuß - die glaubensmäßig absolut
gesetzte Aufhebung aller menschlichen Selbstentfremdung - ist durch die reale Ent-
wicklung in den hellen Köpfen überall widerlegt. Gleichzeitig hat der Marxismus dem
Denken Dimensionen erschlossen, die bleiben und die (Notwendigkeit partieller Pla-
nung zur Erhaltung und Verwirklichung von Freiheit z.B.) längst auch in die Praxis der
»bürgerlichen« Gesellschaftsordnungen übergegangen sind.
Verzeihen Sie diese Abschweifung. Zurück zu Holthusen: ich verstehe Ihr Beden-
ken, Ihre Unsicherheit. Holthusen gehört aber zu den ganz wenigen Kritikern von
Rang und persönlicher Substanz, die wir heute haben. Ein wichtiges Problem ist
natürlich für ihn, wie für uns alle: Die mit Mißtrauen zu paarende, aber zu akzep-
tierende Einsicht, daß der kommunistische Totalitarismus in seiner realen Entwick-
lung, die wir miterleben, zwar - bisher - totalitär bleibt, aber mit dem Nazi-Totalita-
rismus nicht identisch ist. Holthusen gehört zu den Mißtrauischsten gegenüber den
Sirenenklängen der Entspannung. Andrerseits ist die Entspannung eine Realität der
gegenwärtigen Weltpolitik (Amerika). Der kommunistische Glaube ist nach wie vor,
daß allgemeines Glück auf Erden erst herrschen kann, wenn alle Menschen Kommu-
nisten sind. So müssen wir beim »Reden mit den Kommunisten« wachsam bleiben.
Aber die innerdeutschen Gefahren durch die Gesinnung von Unaufrichtigkeit, Kurz-
sichtigkeit, die die Freiheit bei uns selbst bedrohen, sind ebenso Realität. Deshalb ist
die Solidarität aller notwendig, denen Freiheit wirklich die Lebenssubstanz ist. Ich
habe deshalb auch das Wagnis unternommen, zwei, auf dem literarisch-intellektuel-
len Feld, wenn man will, so gegensätzlich-politische Autoren wie Holthusen und Wal-
ter Jens unter dem Verlagsdach zu vereinen (eine psychologische Ergänzung zu Han-
nah Arendts Hinweis auf das polemische Wesen der Konservativen: die konservativ
Gesinnten bleiben häufig vereinzelt, brauchen Distanz offenbar, während die »Fort-
schrittlichen« viel mehr Solidarität pflegen, auch allerdings zur Cliquen-Bildung hin
und bis in die materiellen Interessen hinein, was aber übrigens bei der »Gruppe 47«
doch bei weitem nicht die Bedeutung hat, wie manche annehmen).
Ich muß mich noch sehr bei Ihnen entschuldigen, lieber Herr Professor, daß ich
mich in den Jahren irrte. Selbstverständlich war mir Ihr CUSANUS gegenwärtig, als
ich die kleine Rückschau hielt auf Ihre letztjährigen Ausgaben in unserem Verlag.
Irgendwie schob sich in meinem Kopf wohl 1964 und 1965 ineinander, so daß ich den