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Jonas Borsch
geographische Gegebenheiten - wird im griechischen Schriftwesen erst ab dem 5.
Jahrhundert v. Chr. greifbar.36 In den Kontext dieser Entwicklung gehören etwa die
Ausführungen bei Herodot über die körperlichen Eigenschaften von Ägyptern, Per-
sern und Skythen, aber auch die hippokratische Schrift Über Luft, Wasser und Orte, die
das Verhältnis von natürlicher Umwelt und körperlichen Zuständen thematisiert.37
Noch einen Schritt weiter geht das zweite Buch der hippokratischen Epidemien, das
als besonders ausgeprägter, wenngleich nicht erster Zeuge für direkte Rückschlüsse
von äußeren Körpermerkmalen auf innere Eigenschaften gelten kann.38 Katalogartig
listet das Werk körperliche Eigenschaften und deren Signifikanz nicht nur für die
individuelle Anfälligkeit gegenüber bestimmten Krankheiten, sondern auch für die
moralischen Qualitäten des Betrachteten auf. Rotes Gesicht, spitze Nase und kleine
Augen werden so zum Zeichen von Boshaftigkeit, während Menschen, die sich durch
besondere Körpergröße, durch Kahlköpfigkeit und eine Neigung zum Stottern aus-
zeichnen, eine gute Natur zugeschrieben wird.39 Solche Überlegungen gliedern sich
ein in eine Schrifttradition, die seit dem späten 5.74. Jahrhundert v.Chr. an Fahrt ge-
wonnen hat und als deren vielleicht prominentester Exponent die gegen Ende des 4.
Jahrhunderts entstandene (pseudo-)aristotelische Schrift Physiognomica gelten kann.40
Der im Titel dieses kurzen Werkes verwendete Begriff lässt sich aus dem Verb φυ-
σιο-γνωμονέω ableiten: Die „Physiognomik“ zielt wörtlich darauf ab, ,das Wesen
zu erkennen/zu beurteilen4.41 Dem zunehmendem intellektuellen Interesse an der
menschlichen Gestalt entspricht auch die Entwicklung in der griechischen bildenden
Kunst, die sich seit dem mittleren/ausgehenden 5. Jahrhundert v.Chr. verstärkt für in-
dividuelle Gesichtszüge interessiert bzw. sie zur Darstellung gebracht hat. Porträtiert
wurden Politiker wie Themistokles und Perikies, aber auch ein Philosoph wie Sokra-
tes, dessen besonderes, silenenhaftes Aussehen von ihm selbst wie auch von seinen
Zeitgenossen thematisiert worden ist und in seinen Porträts aufgegriffen wurde.42 Der
entstandene Bildnistypus ist von Luca Giuliani als „physiognomisches Porträt wi-
36 Vgl. Misener (1924), 104; vgl. Snell (1946), S. 20; zur zeitgenössischen Herausbildung des „Individual-
porträts“ in der plastischen Kunst Vogt (1999), S. 73-87.
37 Vgl. Herodotus, Historiae III 12 zu den angeblich durch die Sonneneinstrahlung besonders starken
Schädeldecken der Ägypter im Vergleich zu den besonders dünnen - da immer vor Sonne geschütz-
ten - der Perser; IV 23 zur ungewöhnlichen Physiognomie der skythischen Bergbewohner; Hippocra-
tes, De Acre Aquis Lods zum Einfluss von Naturumständen auf die menschliche Physis.
38 Hippocrates, Epidemiae II. Vgl. aber etwa bereits Homerus, Ilias XIII 277-286, wo Idomeneus erläutert,
dass die Feigen von den Tapferen durch ihre Gesichtsfarbe wie durch ihr ganzes Verhalten leicht zu
unterscheiden seien; nach Mehl (2008), S. 34 der „premier texte physiognomique de la littérature an-
tique“.
39 Hippocrates,Epidemiae II 5,1: Όκόσοι πυρροί, όξύρρινες, οφθαλμοίσμικροί, πονηροί. [...] Με-
γάλοι, φαλακροί, τραυλοί, ίσχνόφωνοι, έσθλοί.
40 Aristoteles, Physiognomica. Zur Datierung Vogt (1999), S. 192-197.
41 Vogt (1999), S. 37-38.
42 Zu dieser Entwicklung Vogt (1999), S. 73—87. Zur allgemeinen Zunahme des Interesses am menschli-
chen Aussehen auch Misener (1924), S. 104-105 mit Hinweis auf die physischen Beschreibungen be-
rühmter Athener in einem nicht erhaltenen Werk des Ion von Chios sowie auf die zeitgenössischen
Entwicklung in der Gestaltung von Theatermasken.
Jonas Borsch
geographische Gegebenheiten - wird im griechischen Schriftwesen erst ab dem 5.
Jahrhundert v. Chr. greifbar.36 In den Kontext dieser Entwicklung gehören etwa die
Ausführungen bei Herodot über die körperlichen Eigenschaften von Ägyptern, Per-
sern und Skythen, aber auch die hippokratische Schrift Über Luft, Wasser und Orte, die
das Verhältnis von natürlicher Umwelt und körperlichen Zuständen thematisiert.37
Noch einen Schritt weiter geht das zweite Buch der hippokratischen Epidemien, das
als besonders ausgeprägter, wenngleich nicht erster Zeuge für direkte Rückschlüsse
von äußeren Körpermerkmalen auf innere Eigenschaften gelten kann.38 Katalogartig
listet das Werk körperliche Eigenschaften und deren Signifikanz nicht nur für die
individuelle Anfälligkeit gegenüber bestimmten Krankheiten, sondern auch für die
moralischen Qualitäten des Betrachteten auf. Rotes Gesicht, spitze Nase und kleine
Augen werden so zum Zeichen von Boshaftigkeit, während Menschen, die sich durch
besondere Körpergröße, durch Kahlköpfigkeit und eine Neigung zum Stottern aus-
zeichnen, eine gute Natur zugeschrieben wird.39 Solche Überlegungen gliedern sich
ein in eine Schrifttradition, die seit dem späten 5.74. Jahrhundert v.Chr. an Fahrt ge-
wonnen hat und als deren vielleicht prominentester Exponent die gegen Ende des 4.
Jahrhunderts entstandene (pseudo-)aristotelische Schrift Physiognomica gelten kann.40
Der im Titel dieses kurzen Werkes verwendete Begriff lässt sich aus dem Verb φυ-
σιο-γνωμονέω ableiten: Die „Physiognomik“ zielt wörtlich darauf ab, ,das Wesen
zu erkennen/zu beurteilen4.41 Dem zunehmendem intellektuellen Interesse an der
menschlichen Gestalt entspricht auch die Entwicklung in der griechischen bildenden
Kunst, die sich seit dem mittleren/ausgehenden 5. Jahrhundert v.Chr. verstärkt für in-
dividuelle Gesichtszüge interessiert bzw. sie zur Darstellung gebracht hat. Porträtiert
wurden Politiker wie Themistokles und Perikies, aber auch ein Philosoph wie Sokra-
tes, dessen besonderes, silenenhaftes Aussehen von ihm selbst wie auch von seinen
Zeitgenossen thematisiert worden ist und in seinen Porträts aufgegriffen wurde.42 Der
entstandene Bildnistypus ist von Luca Giuliani als „physiognomisches Porträt wi-
36 Vgl. Misener (1924), 104; vgl. Snell (1946), S. 20; zur zeitgenössischen Herausbildung des „Individual-
porträts“ in der plastischen Kunst Vogt (1999), S. 73-87.
37 Vgl. Herodotus, Historiae III 12 zu den angeblich durch die Sonneneinstrahlung besonders starken
Schädeldecken der Ägypter im Vergleich zu den besonders dünnen - da immer vor Sonne geschütz-
ten - der Perser; IV 23 zur ungewöhnlichen Physiognomie der skythischen Bergbewohner; Hippocra-
tes, De Acre Aquis Lods zum Einfluss von Naturumständen auf die menschliche Physis.
38 Hippocrates, Epidemiae II. Vgl. aber etwa bereits Homerus, Ilias XIII 277-286, wo Idomeneus erläutert,
dass die Feigen von den Tapferen durch ihre Gesichtsfarbe wie durch ihr ganzes Verhalten leicht zu
unterscheiden seien; nach Mehl (2008), S. 34 der „premier texte physiognomique de la littérature an-
tique“.
39 Hippocrates,Epidemiae II 5,1: Όκόσοι πυρροί, όξύρρινες, οφθαλμοίσμικροί, πονηροί. [...] Με-
γάλοι, φαλακροί, τραυλοί, ίσχνόφωνοι, έσθλοί.
40 Aristoteles, Physiognomica. Zur Datierung Vogt (1999), S. 192-197.
41 Vogt (1999), S. 37-38.
42 Zu dieser Entwicklung Vogt (1999), S. 73—87. Zur allgemeinen Zunahme des Interesses am menschli-
chen Aussehen auch Misener (1924), S. 104-105 mit Hinweis auf die physischen Beschreibungen be-
rühmter Athener in einem nicht erhaltenen Werk des Ion von Chios sowie auf die zeitgenössischen
Entwicklung in der Gestaltung von Theatermasken.