16 Versuch einer Selbstkritik
wurf zufolge, der Ende 1870 entstand, plante er sogar eine eigene Schrift mit
dem Titel Griechische Heiterkeit (NL 1870, KSA 7, 6[18], 136). Zur Vorstellung
von der „griechischen Heiterkeit“, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das
Griechenbild bestimmte, hatte maßgeblich Winckelmann mit seiner Geschichte
der Kunst des Alterthums (1764) beigetragen. Aus der mittleren Lage Griechen-
lands zwischen den klimatischen und geographischen Extremen von Norden
und Süden, die zur Harmonie disponiere, hatte er geschlossen, daß Natur und
Kunst „desto heiterer und fröhlicher“ werden, je näher sie dieser mittleren
Zone sind (I. Teil, 4. Kapitel, 1. Stück). N. dagegen interpretierte die „Heiterkeit“
als dekadentes Spätzeitphänomen und als Signum von Oberflächlichkeit: „auf
dem weitesten Gebiete der Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der
verzehrende Hauch jenes Geistes, welcher sich in jener Form der griechischen
Heiterkeit4 kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft unpro-
ductiven Daseinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein Gegenstück zu der
herrlichen ,Naivetät4 der älteren Griechen [...] Die edelste Form jener anderen
Form der griechischen Heiterkeit4, der alexandrinischen, ist die Heiterkeit des
theoretischen Menschen: sie zeigt dieselben charakteristischen Merk-
male, die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete“ (114, SO-
US, 10). Dennoch versuchte N. die Vorstellung der griechischen Heiterkeit zu
bewahren, indem er sie uminterpretierte. Schon im ursprünglichen Vorwort an
Richard Wagner (NL 1871, KSA 7, 11 [1], 351-357) vom Februar 1871, das er später
zugunsten des der Erstausgabe der Tragödienschrift (1872) vorangestellten Vor-
worts verwarf, ist „Heiterkeit“ ein Leitbegriff, den er analog zu Schopenhauers
fundamentaler Konstellation von „Wille“ und „Vorstellung“ interpretiert: „Uns
hat die griechische Kunst gelehrt, daß es keine wahrhaft schöne Fläche [d. h.
Oberfläche im Sinne oberflächenhafter Heiterkeit] ohne eine schreckliche Tiefe
giebt“ (352, 24-26).
11, 19 f. als man in Versailles über den Frieden berieth] Nachdem Metz und
eine Armee unter Marschall Bazaine vom 20. August bis 29. Oktober 1870 von
deutschen Truppen eingeschlossen worden war und eine andere französische
Armee nach der Schlacht bei Sedan am 1. September während des folgenden
Tages kapituliert hatte, geriet Napoleon III. in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Auf die Niederlage folgte am 4. September der Sturz des französischen Kaiser-
tums. Am 19. September 1870 begann die Belagerung und Beschießung von
Paris. Am 18. Januar 1871 wurde König Wilhelm I. von Preußen im Spiegelsaal
des Schlosses von Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen, am 28. Januar
1871 kapitulierte Paris, zwischen dem 21. und dem 25. Februar 1871 fanden in
Versailles die von N. erwähnten Friedensverhandlungen statt, am 26. Februar
wurde der Vorfriede von Versailles geschlossen, den am 10. Mai der Friede von
Frankfurt a. M. bestätigte. Frankreich trat an Deutschland das Elsaß (ohne
wurf zufolge, der Ende 1870 entstand, plante er sogar eine eigene Schrift mit
dem Titel Griechische Heiterkeit (NL 1870, KSA 7, 6[18], 136). Zur Vorstellung
von der „griechischen Heiterkeit“, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das
Griechenbild bestimmte, hatte maßgeblich Winckelmann mit seiner Geschichte
der Kunst des Alterthums (1764) beigetragen. Aus der mittleren Lage Griechen-
lands zwischen den klimatischen und geographischen Extremen von Norden
und Süden, die zur Harmonie disponiere, hatte er geschlossen, daß Natur und
Kunst „desto heiterer und fröhlicher“ werden, je näher sie dieser mittleren
Zone sind (I. Teil, 4. Kapitel, 1. Stück). N. dagegen interpretierte die „Heiterkeit“
als dekadentes Spätzeitphänomen und als Signum von Oberflächlichkeit: „auf
dem weitesten Gebiete der Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der
verzehrende Hauch jenes Geistes, welcher sich in jener Form der griechischen
Heiterkeit4 kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft unpro-
ductiven Daseinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein Gegenstück zu der
herrlichen ,Naivetät4 der älteren Griechen [...] Die edelste Form jener anderen
Form der griechischen Heiterkeit4, der alexandrinischen, ist die Heiterkeit des
theoretischen Menschen: sie zeigt dieselben charakteristischen Merk-
male, die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete“ (114, SO-
US, 10). Dennoch versuchte N. die Vorstellung der griechischen Heiterkeit zu
bewahren, indem er sie uminterpretierte. Schon im ursprünglichen Vorwort an
Richard Wagner (NL 1871, KSA 7, 11 [1], 351-357) vom Februar 1871, das er später
zugunsten des der Erstausgabe der Tragödienschrift (1872) vorangestellten Vor-
worts verwarf, ist „Heiterkeit“ ein Leitbegriff, den er analog zu Schopenhauers
fundamentaler Konstellation von „Wille“ und „Vorstellung“ interpretiert: „Uns
hat die griechische Kunst gelehrt, daß es keine wahrhaft schöne Fläche [d. h.
Oberfläche im Sinne oberflächenhafter Heiterkeit] ohne eine schreckliche Tiefe
giebt“ (352, 24-26).
11, 19 f. als man in Versailles über den Frieden berieth] Nachdem Metz und
eine Armee unter Marschall Bazaine vom 20. August bis 29. Oktober 1870 von
deutschen Truppen eingeschlossen worden war und eine andere französische
Armee nach der Schlacht bei Sedan am 1. September während des folgenden
Tages kapituliert hatte, geriet Napoleon III. in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Auf die Niederlage folgte am 4. September der Sturz des französischen Kaiser-
tums. Am 19. September 1870 begann die Belagerung und Beschießung von
Paris. Am 18. Januar 1871 wurde König Wilhelm I. von Preußen im Spiegelsaal
des Schlosses von Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen, am 28. Januar
1871 kapitulierte Paris, zwischen dem 21. und dem 25. Februar 1871 fanden in
Versailles die von N. erwähnten Friedensverhandlungen statt, am 26. Februar
wurde der Vorfriede von Versailles geschlossen, den am 10. Mai der Friede von
Frankfurt a. M. bestätigte. Frankreich trat an Deutschland das Elsaß (ohne