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38 Die Geburt der Tragödie

Nr. 68, S. 110, Z. 36 f.); und am gleichen Tag teilt er dem Freund Erwin Rohde
mit, er nähere sich „einer Gesammtanschauung des griechischen Alterthums,
Schritt für Schritt und zaghaft erstaunt“ (KSB 3, Nr. 69, S. 112, Z. 60-62). Noch
bevor er Mitte August 1870 von Basel aufbricht, um als Sanitäter am deutsch-
französischen Krieg teilzunehmen, formuliert er diese „Gesammtanschauung“
in dem Aufsatz Die dionysische Weltanschauung (KSA 1, 551-577). Darin entwirft
N. zum ersten Mal sowohl die Grundstruktur der Tragödie wie das Wesen des
Griechentums aus der (an sich schon bekannten) Polarität „apollinisch - dio-
nysisch“. Erste Spuren davon finden sich bereits in zwei Notizen, die zwischen
Winter 1869/70 und Frühjahr 1870 entstanden sind (NL 1869/1870, KSA 7, 3[25]
und 3[27], 67). Nachdem N. infolge einer Krankheit schon bald - im September
1870 - aus dem Krieg nach Basel zurückgekehrt war, entnahm er eine Partie
des Aufsatzes Die dionysische Weltanschauung, um sie unter dem Titel Die
Geburt des tragischen Gedankens (hier erscheint erstmals die Vorstellung der
„Geburt“) Cosima Wagner zu ihrem Geburtstag am 25. Dezember 1870 nach
Tribschen zu bringen. „Abends liest uns Richard im Manuskript, das mir Pro-
fessor Nietzsche als Geburtstagsgabe dargereicht hat“, notierte Cosima Wagner
in ihr Tagebuch am 26.12.1870, „sie ist [...] von höchstem Wert; die Tiefe und
Großartigkeit der in gedrängtester Kürze gegebenen Anschauungen ist ganz
merkwürdig; wir folgen seinem Gedankengang mit größtem und lebhaftestem
Interesse. Besondere Freude gewährt es mir, daß Richard’s Ideen auf diesem
Gebiet ausgedehnt werden können“.
Anfang 1871 steht der Plan fest, von den bisher entstandenen Aufsätzen
ausgehend eine größere Schrift zu veröffentlichen. Der aktuelle Anlaß ist die
Bewerbung N.s um eine philosophische Professur im Januar 1871, ebenfalls in
Basel. Dafür müsse er sich, so schreibt er am 29. März 1871 an Erwin Rohde,
auch „philosophisch etwas ausweisen und legitimieren“ (KSB 3, Nr. 130, S. 189,
Z. 13). Schon in den ersten Monaten des Jahres 1871 verfaßte er deshalb, wie
er im gleichen Brief an Rohde berichtet (189, 13 f.), „eine kleine Schrift
,Ursprung und Ziel der Tragödie“4, und weiter heißt es (190, 42-61): „Von der
Philologie lebe ich in einer übermüthigen Entfremdung, die sich schlimmer
gar nicht denken läßt. Lob und Tadel, ja alle höchsten Glorien auf dieser Seite
machen mich schaudern. So lebe ich mich allmählich in mein Philosophen-
thum hinein und glaube bereits an mich; ja wenn ich noch zum Dichter werden
sollte, so bin ich selbst hierauf gefaßt [...]. Bald sehe ich ein Stück neuer Meta-
physik, bald eine neue Aesthetik wachsen. [...] Ich lerne bereits nichts mehr,
was nicht sofort in irgend einem Winkel des Vorhandenen einen guten Platz
vorfindet“. Ein Teil des neuen Werkes erscheint im Voraus als Privatdruck
unter dem Titel Sokrates und die griechische Tragödie. Im Brief an Erwin Rohde
vom 7. Juni 1871 bezeichnet ihn N. selbst als „Umarbeitung jenes früheren Vor-
 
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