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Überblickskommentar: Konzeption 49

der Wagner selbst nachdrücklich sprach, als historisches Ereignis plausibel
erscheint, malt N. ein Tableau vom Niedergang der antiken Tragödie und inter-
pretiert, wie ebenfalls schon Wagner selbst in seiner Haupt-Schrift Oper und
Drama, die Geschichte der neuzeitlichen Oper vor Wagner als „Entartung“. Erst
dadurch kann Wagner die epochale „Wiedergeburt“ zugeschrieben werden.
Strategisch und konzeptionell kommt dem ersten Teil mit den Kapiteln
über die „Geburt“ der griechischen Tragödie eine doppelte Funktion zu. Ers-
tens soll vor dem Hintergrund der im deutschen Kulturleben fest verankerten
Vorstellung von der Mustergültigkeit der griechischen Kultur die griechische
Tragödie als prototypisches und repräsentatives Erzeugnis erscheinen (Homer,
über den N. seine Basler Antrittsvorlesung gehalten hatte, wird abgedrängt),
damit deren „Wiedergeburt“ bei Wagner analog als gesamtkulturell relevantes
Ereignis der Erneuerung wahrgenommen wird. Zweitens soll die von Schopen-
hauers und Wagners Musik-Konzeption bestimmte und nach deren Kategorien
durchstrukturierte Präsentation der griechischen Tragödie dem Werk Wagners
eine apriorische Legitimation verschaffen. Es handelt sich um einen Zirkel-
schluß: Die Vorstellungen Schopenhauers und Wagners, der sich trotz mancher
konzeptioneller Divergenzen ebenfalls an Schopenhauer orientierte, werden
zuerst auf die griechische Tragödie zurückprojiziert, damit anschließend Wag-
ners Werk als Wiedergeburt der griechischen Tragödie nach deren (von Scho-
penhauer her konstruierten) Prinzipien erscheinen kann. In einer Notiz aus
der Entstehungszeit der Tragödienschrift im Jahr 1871 drückt N. es so aus: „Von
den Griechen sollen wir das Wagnersche Kunstwerk verstehn“ (NL
1871, KSA 7, 13[5], 373). Und in der Vorstufe Das griechische Musikdrama heißt
es abschließend vom „antiken Musikdrama“: „Wer aber bei seinem Anblick an
das Ideal des jetzigen Kunstreformators erinnert wird, der wird sich zugleich
sagen müssen, daß jenes Kunstwerk der Zukunft durchaus nicht etwa eine
glänzende, doch täuschende Luftspiegelung ist: was wir von der Zukunft erhof-
fen, das war schon einmal Wirklichkeit - in einer mehr als zweitausendjähri-
gen Vergangenheit“ (KSA 1, 531 f.).
N. versucht die „Geburt“ der Tragödie sowohl historisch wie philosophisch-
systematisch darzustellen. Obwohl der Titel eine Abhandlung über die
„Geburt“ der Tragödie ankündigt, verschiebt sich der Fokus der historischen
Darlegungen im Verlauf der Abhandlung immer mehr auf den Niedergang der
Tragödie bis hin zu einem grenzwertigen Endstadium. Das schwer greifbare
„Geburts“-Stadium gibt N. apodiktisch als durch die Überlieferung gesichert
aus. So verficht er die in enger Anlehnung an Wagner formulierte Titelthese
von der Geburt der Tragödie „aus dem Geiste der Musik“ mit dem Hauptargu-
ment, „dass die Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden
ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor“ gewesen sei (52, 13-15).
 
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