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50 Die Geburt der Tragödie

Zwar gibt es Überlieferungen, die besagen, daß die Tragödie aus einem Chor
entstanden ist, aber es ist problematisch, aus einer solchen Entstehung zu
schließen, dieser Chor sei selbst schon die ursprüngliche Tragödie gewesen.
Außerdem setzt N. den „Chor“ mit „Musik“ gleich, obwohl der Chor bei den
Griechen vor allem kultischer Tanz ist und die Chorlieder der griechischen
Tragödie auch einen Text haben. Überdies spricht N. nicht bloß von Musik,
sondern wie schon Wagner vom „Geist“ der Musik, der nichts anderes bedeutet
als die spätromantische Interpretation der ins Metaphysische gehenden Musik-
theorie Schopenhauers (und in dessen Gefolge Wagners). Auch bleibt das Pro-
blem, wie sich aus der „Musik“ des Chores der Übergang zum Drama, denn
ein solches ist ja die Tragödie, vollziehen konnte. N. überspringt diese Schwie-
rigkeit, indem er den Chor selbst zum „Urdrama“ deklariert: Man habe „diesem
tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in’s Herz zu sehen“ (52, 16 f.).
Allerdings kommt das „eigentlich“ Dramatische - schon das Wort „Drama“
heißt „Handlung“ - gar nicht zur Sprache.
Hier wie auch im weiteren Verlauf der Tragödienschrift befindet sich N. in
einem von ihm selbst markierten grundsätzlichen Widerspruch zu Aristoteles
(hierzu genauer NK 140, 24-28), der in seiner Poetik gerade nicht die Musik,
sondern die Handlung der Tragödie ins Zentrum stellt. Das Grundmuster der
Handlung sieht Aristoteles vom „Mythos“ vorgegeben, den er insofern auch als
wesentlich für das Drama erklärt. „Mythos“ ist für ihn im griechischen Wort-
sinn die Sage, die Fabel, die der Handlung zugrundeliegt. Da N. zugunsten der
„Musik“ die Handlung möglichst auszuklammern sucht, darf für ihn auch der
Mythos nicht diese griechische Bedeutung und nicht die ihm von Aristoteles
zugemessene fundamentale Funktion haben. Er muß vielmehr zu einem
Sekundärprodukt der „Musik“ werden. Diese Strategie verfolgt N. in systemati-
scher Absicht, indem er die Vorstellungswelt des Mythos (den Begriff „Hand-
lung“ vermeidet er) als analogische, bildhafte Produktion der apriorischen,
amimetischen Musik darstellt. Wie aber läßt sich diese Produktion, d. h. die
behauptete Genese des bildhaften Mythos aus der bildlosen Musik überhaupt
begreifen? N. argumentiert hier nicht historisch, sondern geht in analogisieren-
der Übertragung von der ins Prinzipielle reichenden Willensmetaphysik Scho-
penhauers aus. In Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung
produziert der „Wille“ als metaphysisch-apriorischer Seinsgrund die schein-
hafte Welt der „Vorstellung“. N. überträgt zunächst analogisierend die Grund-
funktion von Schopenhauers „Willen“ auf das „Dionysische“, indem er das
Dionysische ebenfalls als apriorisches generatives Prinzip auffaßt, damit aber
auch die als „dionysisch“ definierte Musik; aus dieser Sphäre läßt er analog
zu Schopenhauers „Vorstellung“ das bildhafte, sowohl als Erscheinung wie als
scheinhaft begriffene „Apollinische“ hervorgehen, um sodann, in einer tragö-
 
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