60 Die Geburt der Tragödie
die sich aller Mittel der ampliflcatio, der accumulatio und der aufschäumenden
Anaphorik bedient. Wenige Monate vor Fertigstellung der Tragödienschrift, am
4. August 1871, schrieb N. an seinen Freund Erwin Rohde, dem er eine Vorstufe
von GT: Sokrates und die griechische Tragoedie als Vorausprobe geschickt hatte,
von der „purpurnen Dunkelheit“ und dem „mystischen Dampfe der ersten Con-
ception“, der allerdings auch noch die fertige Schrift umwölkt. Im gleichen
Brief geht er auf sein gedankliches wie stilistisches Hauptvorbild, auf Schopen-
hauer ein: „Das Studium Schopenhauer’s wirst Du überall bemerkt haben,
auch in der Stilistik“ (KSB 3, Nr. 149, S. 215 u. S. 216). Vom Stilhabitus seines
Erstlings, der allerdings doch nur ansatzweise mit demjenigen Schopenhauers
übereinstimmt, distanziert sich N. in seinem Versuch einer Selbstkritik (1886),
in dem er rückblickend seinen einst „übergrünen“ Zustand diagnostiziert. Der
Stil ist weder sachlich-wissenschaftlich, noch poetisch, noch essayistisch
geschliffen. Auf weiten Strecken erschöpft er sich im Gestus genialischer Inspi-
riertheit und in apodiktischen Behauptungen. Auch wechseln Partien, die rela-
tiv geschlossen wirken, mit bloß Angestücktem und Zwischengeschobenem,
wie sich aus dem Entstehungsprozess und den Vorstufen genau nachweisen
läßt. Nur mit Mühe findet man daher einen roten Faden.
Bald nach der Veröffentlichung kritisierte N. in der ersten der Unzeitgemä-
ßen Betrachtungen: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller dessen
Stil als philiströs und defizitär, um den mit Wagner verfeindeten Strauß ver-
ächtlich zu machen und damit Wagners Erwartungen zu erfüllen. Zugleich
wollte er an Strauß ein Exempel für die „Verhunzung“ der deutschen Sprache
statuieren, nachdem schon sein großes Vorbild Schopenhauer diesem Thema
eine eigene Abhandlung gewidmet hatte. Doch ist N.s eigener Stil in dieser
Erstlingsschrift oft bombastisch, superlativisch überlastet (womit er einer Vor-
liebe Wagners und Cosimas folgt) und in einem eingeweihten Tiefsinnston
gehalten. Nicht genug tun kann sich der junge N. mit Worten wie „tief“,
„Urgrund“, „Abgrund“, „Ur-Eines“, „Urbegierde“, „Urlust“, „Urschmerz“,
„Urwiderspruch“, „ursprünglich“, „geheimnissvoll“, „mystisch“, „mythisch“,
„dämonisch“, „metaphysisch“, „unbewußt“ und, allem voran, mit dem in einer
ganzen Woge ,tiefer4 Bedeutungen schwebenden Schlüsselwort „dionysisch“.
Die auffallenden Wortzusammensetzungen mit „Ur-“ sind gewollte Anklänge
an Wagner, der vom „Urkönigtum“, von der „Urheimath der Menschen“ (GSD
II, 116), vom „Urheldentum“ und sogar von der „Urstadt“ spricht (GSD II, 138),
um mythische Urphänomene und Urtypen zu konstruieren.
Wie aus den nachgelassenen Notizen zur Tragödienschrift hervorgeht,
beschäftigte sich N. mit der in der Nachfolge von Kants Kritik der Urteilskraft
stehenden Abhandlung Schillers Über das Erhabene. In der Geburt der Tragödie
nimmt er die dort vorgefundene und schon in einer Tradition stehende Unter-
die sich aller Mittel der ampliflcatio, der accumulatio und der aufschäumenden
Anaphorik bedient. Wenige Monate vor Fertigstellung der Tragödienschrift, am
4. August 1871, schrieb N. an seinen Freund Erwin Rohde, dem er eine Vorstufe
von GT: Sokrates und die griechische Tragoedie als Vorausprobe geschickt hatte,
von der „purpurnen Dunkelheit“ und dem „mystischen Dampfe der ersten Con-
ception“, der allerdings auch noch die fertige Schrift umwölkt. Im gleichen
Brief geht er auf sein gedankliches wie stilistisches Hauptvorbild, auf Schopen-
hauer ein: „Das Studium Schopenhauer’s wirst Du überall bemerkt haben,
auch in der Stilistik“ (KSB 3, Nr. 149, S. 215 u. S. 216). Vom Stilhabitus seines
Erstlings, der allerdings doch nur ansatzweise mit demjenigen Schopenhauers
übereinstimmt, distanziert sich N. in seinem Versuch einer Selbstkritik (1886),
in dem er rückblickend seinen einst „übergrünen“ Zustand diagnostiziert. Der
Stil ist weder sachlich-wissenschaftlich, noch poetisch, noch essayistisch
geschliffen. Auf weiten Strecken erschöpft er sich im Gestus genialischer Inspi-
riertheit und in apodiktischen Behauptungen. Auch wechseln Partien, die rela-
tiv geschlossen wirken, mit bloß Angestücktem und Zwischengeschobenem,
wie sich aus dem Entstehungsprozess und den Vorstufen genau nachweisen
läßt. Nur mit Mühe findet man daher einen roten Faden.
Bald nach der Veröffentlichung kritisierte N. in der ersten der Unzeitgemä-
ßen Betrachtungen: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller dessen
Stil als philiströs und defizitär, um den mit Wagner verfeindeten Strauß ver-
ächtlich zu machen und damit Wagners Erwartungen zu erfüllen. Zugleich
wollte er an Strauß ein Exempel für die „Verhunzung“ der deutschen Sprache
statuieren, nachdem schon sein großes Vorbild Schopenhauer diesem Thema
eine eigene Abhandlung gewidmet hatte. Doch ist N.s eigener Stil in dieser
Erstlingsschrift oft bombastisch, superlativisch überlastet (womit er einer Vor-
liebe Wagners und Cosimas folgt) und in einem eingeweihten Tiefsinnston
gehalten. Nicht genug tun kann sich der junge N. mit Worten wie „tief“,
„Urgrund“, „Abgrund“, „Ur-Eines“, „Urbegierde“, „Urlust“, „Urschmerz“,
„Urwiderspruch“, „ursprünglich“, „geheimnissvoll“, „mystisch“, „mythisch“,
„dämonisch“, „metaphysisch“, „unbewußt“ und, allem voran, mit dem in einer
ganzen Woge ,tiefer4 Bedeutungen schwebenden Schlüsselwort „dionysisch“.
Die auffallenden Wortzusammensetzungen mit „Ur-“ sind gewollte Anklänge
an Wagner, der vom „Urkönigtum“, von der „Urheimath der Menschen“ (GSD
II, 116), vom „Urheldentum“ und sogar von der „Urstadt“ spricht (GSD II, 138),
um mythische Urphänomene und Urtypen zu konstruieren.
Wie aus den nachgelassenen Notizen zur Tragödienschrift hervorgeht,
beschäftigte sich N. mit der in der Nachfolge von Kants Kritik der Urteilskraft
stehenden Abhandlung Schillers Über das Erhabene. In der Geburt der Tragödie
nimmt er die dort vorgefundene und schon in einer Tradition stehende Unter-