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62 Die Geburt der Tragödie

Das Schöne hat seinen Haken: wir wissen das. Wozu also Schönheit? Warum nicht lieber
das Grosse, das Erhabne, das Gigantische, Das, was die Massen bewegt? - Und noch-
mals: es ist leichter, gigantisch zu sein als schön; wir wissen das ...
Wir kennen die Massen, wir kennen das Theater. Das Beste, was darin sitzt, deutsche
Jünglinge, gehörnte Siegfriede und andre Wagnerianer, bedarf des Erhabenen, des Tiefen,
des Überwältigenden. So viel vermögen wir noch. Und das Andre, das auch noch darin
sitzt, die Bildungs-Cretins, die kleinen Blasirten, die Ewig-Weiblichen, die Glücklich-Ver-
dauenden, kurz das Volk - bedarf ebenfalls des Erhabenen, des Tiefen, des Überwälti-
genden. Das hat Alles einerlei Logik. „Wer uns umwirft, der ist stark; wer uns erhebt, der
ist göttlich; wer uns ahnen macht, der ist tief.“
Der Stellenwert der Tragödienschrift in Nietzsches
Gesamtwerk
Es gibt einige auffallende Kontinuitäten und eine große Zahl aufschlußreicher
Diskontinuitäten im Verhältnis der Erstlingsschrift zu N.s späteren Werken. Sie
zeichnen sich mit unterschiedlicher Intensität in den Phasen des Gesamtwerks
ab. Oft wirken die Positionen, die N. in GT bezog und später abarbeitete, in
entschiedenen Widerrufen, aber auch in Brechungen, Ambivalenzen und
Variationen nach. Auch kommt manches, was die Frühschrift erst in Ansätzen
enthält, in späteren Schriften voll entwickelt oder härter profiliert zum Aus-
druck, während anderes verschwindet, neu perspektiviert oder sogar bis zu
einem Grade überformt wird, daß die ursprüngliche Intention nur noch partiell
wahrnehmbar bleibt. In besonderer Weise gilt dies für die Vorrede, die N. 1886
der Neuauflage seiner Geburt der Tragödie mit der Absicht voranstellte, das
Wesentliche zu pointieren, um ein angemessenes Verständnis beim Publikum
zu erreichen, das seine Schriften kaum wahrgenommen hatte und nun generell
mit solchen Vorreden auf sie aufmerksam gemacht werden sollte. Mit diesen
späten Vorreden - diejenige zu GT trägt den Titel Versuch einer Selbstkritik und
erschien mit der Neuausgabe 14 Jahre nach der Erstveröffentlichung - verfolgte
er auch das Ziel, eine intellektuelle Autobiographie zu inszenieren. Dabei proji-
zierte er manche erst im Spätwerk ausgebildeten Hauptthesen auf das frühere
Werk zurück und versuchte insbesondere, wie er in einem Brief vom 29. August
1886 an seinen Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch ausdrücklich sagt, die Fluchtli-
nien auf den Zarathustra hin zu zeichnen (vgl. den Kommentar S. 3).
Die Themen, die N. aus GT in seinen späteren Schriften aufnimmt, decken
direkt oder indirekt fast das ganze Spektrum der Erstlingsschrift ab, mit Aus-
nahme der spezifisch altphilologischen Thesen allerdings, die er nach vernich-
tenden Kritiken nicht mehr aufgriff und außerdem als gelehrten Ballast für
seine philosophische Schriftstellerei nicht mehr als relevant ansah. Immerhin
wird das zentrale Mythogramm der Tragödienschrift, Dionysos und das Diony-
 
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