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Überblickskommentar: Stellenwert 65

selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker
giebt, welche an den Heiligen glauben“ (Nr. 143, S. 139, 22-27). Ein solcher
Denker par excellence ist Schopenhauer.
Eine ähnlich kritische Distanzierung verrät die Absage an jegliche Meta-
physik und an symbolische Vorstellungen. Am Ende des ,Vorworts an Richard
Wagner4, das N. der Erstausgabe seiner Tragödienschrift voranstellte, zeigt er
sich noch „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich meta-
physischen Thätigkeit dieses Lebens“ überzeugt (KSA 1, 24, 14 f.). Den Grund-
ansatz der Tragödienschrift bezeichnet er als „aesthetische Metaphysik“
(KSA 1, 43, 32). Dementsprechend beruft er sich gern auf ,Metaphysisches4, so
wenn er gleich am Anfang vom „metaphysischen Wunderakt des hellenischen
,Willens4“ spricht (25, 22 f.) und wiederholt behauptet, von der Tragödie gehe
ein „metaphysischer Trost“ aus (59, 3; 114, 13; 114, 19; 114, 26, 119, 7f.). Er
konstatiert, daß die „Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, son-
dern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu
deren Ueberwindung neben sie gestellt“ (151, 24-26), und er folgert daraus:
„Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik
der Kunst hinein zu schwingen“ (152, 17 f.). Schon in der Anfangspartie von
MA, an exponierter Stelle also, widerruft er mit einer ganzen Reihe von Apho-
rismen (Nr. 1 bis 10; 15-18) diese Fixierung auf Metaphysisches, indem er sie
nunmehr historisch und psychologisch ad absurdum führt. Noch später, in
Jenseits von Gut und Böse, bezieht sich N. kritisch auf seine einstige ,deutsche4
Vorliebe für alles „Tiefe“ (vgl. hierzu den Kommentar zu 74, 1 und JGB 244,
KSA 5, 184, 1-185, 21). Und schon in MA treibt er sich mit seiner einstigen
Ergriffenheit vom Metaphysischen und ,Tiefen4 zugleich auch die Vorliebe für
das - auf ein metaphysisches „Wesen“ bezogene - „Symbol“ und das Symboli-
sche aus (vgl. den Kommentar zu 33, 31-34, 6). Von dieser früheren Symbol-
Emphase und unausgesprochen von Wagner und seiner eigenen Wagner-
Begeisterung distanziert er sich nun, wiederum historisch reflektierend, mit
einem Plädoyer für moderne Intellektualität: „Ehemals war der Geist nicht
durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspin-
nen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; jener Ernst des Symbo-
lischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden“ (KSA 2, 26, 14-17).
In der Konsequenz solcher kritisch historisierenden Diagnosen revidiert
N. auch die vehemente Absage an die Historie, an das „historische“ Denken,
insbesondere an „unsere jetzige gebildete Geschichtsschreibung“, wie er sie
noch in GT (KSA 1, 130, 15-17; vgl. den Kommentar hierzu) als Laster des
19. Jahrhunderts an den Pranger stellte, bevor er dann in der zweiten der
Unzeitgemäßen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das
Leben dieses Thema differenzierter entfaltete. In MA dagegen erhebt er das
 
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