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66 Die Geburt der Tragödie

historische Verstehen, das er auf weiten Strecken dieses Werks selbst anwen-
det, auch explizit zu einer fundamentalen Methode. Schon im 2. Aphorismus
heißt es programmatisch:
Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen
unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Ein-
druck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die
feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch
geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist [...] Alles aber ist gewor-
den; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten
giebt. - Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit
ihm die Tugend der Bescheidung (KSA 2, 24, 24-25, 15; Nr. 2).
Ein weiterer Hauptbereich, in dem N. GT gründlich revidiert, ist die Kunst. Im
,Vorwort an Richard Wagner4 hatte er „von der Kunst als der höchsten Aufgabe
und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens“ (24, 14 f.) gespro-
chen, dementsprechend die Kunst wie Wagner mit der Aura der „Weihe“ verse-
hen und ihr die Stelle der obsolet gewordenen Religion zugewiesen, um einer
spätromantischen Kunstreligion zu huldigen. Dies alles relativiert er nun unter
dem Leitbegriff „Ersatz der Religion“ (MA I 27; KSA 2, 48, 2). In Anleh-
nung an die Katharsis-Lehre des Aristoteles will er fortan die Kunst lediglich
zu dem Zweck gelten lassen, „das mit Empfindungen überladene Gemüth zu
erleichtern“ (48, 22 f.). Die Kunst sei höchstens noch als Mittel des Übergangs
in die Sphäre der Wissenschaft anzuerkennen, in eine Wissenschaft, der er der
Gesamtkonzeption von MA gemäß, die „ein Buch für freie Geister“ sein sollte,
die Aufgabe der Befreiung von alten Vorurteilen und historisch gewordenen
psychischen Voreinstellungen zumißt: „Von der Kunst aus kann man dann
leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen“
(48, 25 f.). Zuvor aber reflektiert N. die religiösen und ,metaphysischen4 Nach-
wirkungen in der Kunst und die sich daraus ergebende emotionale und intel-
lektuelle Herausforderung des freigeistigen Denkers:
Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. - Wie stark das metaphysische
Bedürfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von ihm schwer macht,
kann man daraus entnehmen, dass noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen
entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange
verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen [...]. In solchen Augen-
blicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt (MA I 153, KSA 2, 145,
11-28).

Folgerichtig geht nun N. selbst in einem späteren Teil von MA, dem er die
Überschrift ,Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller4 gab, zu einer ein-
dringlichen Psycho-Historie der Kunst über (vgl. MA I 150, KSA 2, 144, 5-10).
 
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