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Überblickskommentar: Stellenwert 67

Von einem irrationalistisch-dionysischen Ansatz her, den der „Geist der
Musik“ repräsentiert, hatte N. in der Tragödienschrift die Wissenschaft konse-
quent abgewertet. Er verengt dort den Wissenschaftsbegriff auf Logik und Dia-
lektik (vgl. den Kommentar zu 94, 21-95, 25; 100, 29-101, 1; 101, 5-7; 101, 19-
21; 101, 28 f.) und sucht ihn historisch auf die Figur des Sokrates, anthropolo-
gisch auf den „theoretischen Menschen“ zu fixieren (vgl. den Kommentar zu
98, 7-10). Den „Geist der Wissenschaft“ (111, 14; 111, 25; 111, 31) beschwört er
nur, um ihn am „Geiste der Musik“ zu schänden werden zu lassen. Das Para-
digma hierfür ist ihm Sokrates, der die Sphäre der ihm von N. zugeschriebenen
wissenschaftlichen Rationalität vor seinem Tod zugunsten der Musik aufgege-
ben habe. In MA kommt es zu einer Revision insofern, als Wissenschaft zu
einem wichtigen Mittel wird, die metaphysischen Fixierungen aufzulösen
(Nr. 3; Nr. 6). Deshalb gilt jetzt der „Geist der Wissenschaft“ (27, 21; Nr. 6) mehr.
Doch sieht N. auch die Verkümmerungsformen, welche die Wissenschaft mit
sich bringt, und daß „allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissen-
schaft alltäglich und gemein werden müssen“ (MA I 251; S. 208, 31-209, 1), so
daß die Entdeckerfreude und das mit wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen
verbundene lustvolle Selbstgefühl abhanden zu kommen droht, je mehr Ergeb-
nisse aufgehäuft werden. Deshalb zieht er sich auf einen pädagogischen
Gesichtspunkt zurück, indem er der wissenschaftlichen Disziplin einen hervor-
ragenden Trainingswert zuschreibt (MA I 256; S. 212). Doch ließ ihn das Pro-
blem der Wissenschaft auch weiterhin nicht los, er suchte nach einer besseren,
weiterführenden Perspektive. Er gewann sie in der Schrift Die fröhliche Wissen-
schaft. Mit dieser Form freigeisterisch experimentierender Wissenschaft sollte
der Überdruß an der Wissenschaft, der aus der Erstlingsschrift spricht, endgül-
tig überwunden werden.
N. rückte in Menschliches, Allzumenschliches auch von einer ganzen Anzahl
spezieller Positionen ab. So hatte er in GT das Vordringen des Dialogs in der
Tragödie negativ beurteilt, weil dadurch der Anteil des Chores und damit das
- vermeintliche - musikalische Urelement der Tragödie reduziert worden ist.
Dieser Wertung entsprechend war für ihn auch die Chorlyrik, die er mit Musik
gleichsetzte, eine besonders hochstehende Form poetischer Kunst. Dies alles
revidiert er in MA gründlich und zugleich auch die in GT so stark hervortre-
tende Favorisierung des Ursprungsstadiums, die archaisierende Vorliebe für
dunkle Urzustände und für ,Geburts‘-Szenarien. In MA II 219 heißt es nun
dagegen, bei den Griechen zeige sich „ein Arbeiten und Ringen aus dem Dunk-
len, Ueberladnen, Geschmacklosen heraus zum Lichte hin, dass man an die
Mühsal der Heroen erinnert wird, welche die ersten Wege durch Wald und
Sümpfe hin zu bahnen hatten. Der Dialog der Tragödie ist die eigentliche That
der Dramatiker, wegen seiner ungemeinen Helle und Bestimmtheit, bei einer
 
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