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68 Die Geburt der Tragödie

Volksanlage, welche im Symbolischen und Andeutenden schwelgte, und durch
die grosse chorische Lyrik dazu noch eigens erzogen war: wie es die That
Homer’s ist, die Griechen von dem asiatischen Pomp und dem dumpfen Wesen
befreit [...] zu haben“ (KSA 2, 471, 28-472, 9).
Eine analoge Revision zeichnet sich im Hinblick auf die Sentenz ab. Deren
Neubewertung lag schon durch N.s erstmalige Hinwendung zur aphoristischen
Schreibart in MA nahe. Im Gefolge Wagners, der die Sentenz als Ausdrucksmit-
tel ablehnte, hatte auch N. in GT die Sentenz verpönt und sogar die Hochschät-
zung überspielt, welche die Kunst der geschliffenen Sentenz in der Antike und
im Humanismus, später noch besonders bei Schiller erfahren hatte. In MA
dagegen propagiert er sogar ausdrücklich das „Lob der Sentenz“ (MA II VMS
168, KSA 2, 446, 6; vgl. den Kommentar zu GT 11, 77,12-14 mit den entsprechen-
den Nachweisen zu GT und MA). Verstehen läßt sich diese Selbstrevision und
Umwertung aus der noch weiterreichenden Umorientierung N.s auf eine neue
Geistes- und Stilhaltung hin: Nach der antifranzösischen und antiromanischen
Tendenz in GT, mit der er Wagners Deutschtümelei aufnahm und sich, eben-
falls im Gefolge Wagners, von den nationalistischen Aufwallungen in der Zeit
des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71 hinreißen ließ, wendet er sich
nun gerade der französischen Literatur und Kultur intensiv zu. Eine besondere
Rolle spielen dabei die französischen Moralisten, allen voran der mehrmals
in MA genannte La Rochefoucauld, ferner Montaigne, Fontenelle, La Bruyere,
Vauvenargues und Chamfort. Diese Autoren hebt er als seine Vorbilder in MA
II, WS 214 hervor (KSA 2, 646 f.), um gegen das „Dunkle, Uebertriebne“ deut-
scher Schriftsteller und Philosophen (von letzteren nennt er sein früheres Idol
Schopenhauer) die „Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen“
(647, 23 f.) zu rühmen. Bereits früher war N. durch Schopenhauer auf die fran-
zösischen Moralisten aufmerksam geworden. Denn Schopenhauer hatte sich
durch seine 1862 erschienene Übersetzung von Balthazar Graciäns Handorakel
(Oräculo manual y arte de prudencia, 1647) seinerseits schon der Moralistik
zugewandt, und in seinen Parerga und Paralipomena wies er immer wieder mit
Originalzitaten gerade auf die von N. genannten französischen Moralisten hin,
die ja keineswegs auf „Moral“, sondern auf die pointierende und oft desillusio-
nierende Analyse der „mores“ ausgingen.
Nicht zuletzt die Figur des Sokrates, den N. in GT zusammen mit Euripides
als Exponenten eines verderblichen, weil zum Niedergang der griechischen
Kultur führenden Logozentrismus abgelehnt hatte, erfährt nun eine völlig
neue, entgegengesetzte Deutung. Nicht mehr der Repräsentant einer zersetzen-
den Logik und Dialektik tritt dem Leser in MA II (WS 86) entgegen, sondern
der vernünftig lebensnahe und lebenstüchtige Sokrates, wie ihn Xenophon in
seinen Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates) als Vorbildfigur vor Augen
stellt (MA II WS 86, KSA 2, 591, 25-592, 11):
 
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