Überblickskommentar: Stellenwert 69
Sokrates. - Wenn Alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-
vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt, als die
Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständniss des
einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden [...]. Vor
dem Stifter des Christenthums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene Weis-
heit voller Schelmenstreiche voraus, welche den besten Seelenzustand des Men-
schen ausmacht. Ueberdiess hatte er den grösseren Verstand.
Zu den weiteren Wandlungen des Sokrates-Bildes in N.s späteren Werken
gehört vor allem die Umkodierung vom rationalistisch-flachen Optimisten der
Tragödienschrift zum Pessimisten (vgl. den Kommentar zu 100, 25 f.). In der
Götzen-Dämmerung allerdings kehrt N. zu dem in GT entworfenen Bild von
Sokrates als dem Prototyp des Niedergangs zurück - eines Niedergangs, den
er nun ,Decadence4 oder ,Degenerescenz‘ nennt. Ausdrücklich weist N. in dem
GD-Kapitel ,Das Problem des Sokrates4 auf seine Diagnose der Sokrates-Figur
in GT: „Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen Nie-
dergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr
am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht: ich
erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechi-
schen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch (,Geburt der Tragö-
die4 1872)44 (KSA 6, 67, 21-68, 5). N. greift nun auch wieder die Hauptgesichts-
punkte auf, nach denen er in GT Sokrates als Niedergangsfigur charakterisiert:
Logik (69, 14) und Dialektik (70, 10) - vgl. GT 90, 31-34; 91, 7; 94, 13; 95, 24-
26 und die Einzelkommentare hierzu - sowie die Gleichsetzung von Vernunft,
Tugend und Glück. Auch die schon in GT dem Sokrates angelastete rationalisti-
sche Abirrung vom natürlichen Instinkt und die Abwertung des „Instinkts“ (GT
13, 89, 24 und 90, 21-91, 14) kehrt nun in der verschärfenden Formel wieder:
„Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist die Formel für decadence“
(KSA 6, 73, 7-9). Und schon vorher wird, wie in GT, am Paradigma des Sokrates
der „Instinkt“ und das „Leben“ gegen Vernunft und Bewußtsein ausgespielt:
„Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell,
kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war
selbst nur eine Krankheit“ (KSA 6, 73, 3-6). Allerdings radikalisiert N. in GD
seine negative Interpretation der Sokrates-Figur, indem er sie über das Zerrbild
des instinktfeindlichen und lebensfeindlichen Rationalisten hinaus auch noch
aus der Perspektive eines inzwischen naturalistisch vergröberten Aristokratis-
mus abwertet: „Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niederen Volk:
Sokrates war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war“
(KSA 6, 68, 26-28), ja er spricht von seiner „Rhachitiker-Bosheit“ (KSA 6,
69, 14 f.).
Ein herausragendes Beispiel nicht für den Widerruf der in GT vertretenen
Positionen, sondern für Kontinuität, wenn auch eine von mancherlei Modifika-
Sokrates. - Wenn Alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-
vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt, als die
Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständniss des
einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden [...]. Vor
dem Stifter des Christenthums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene Weis-
heit voller Schelmenstreiche voraus, welche den besten Seelenzustand des Men-
schen ausmacht. Ueberdiess hatte er den grösseren Verstand.
Zu den weiteren Wandlungen des Sokrates-Bildes in N.s späteren Werken
gehört vor allem die Umkodierung vom rationalistisch-flachen Optimisten der
Tragödienschrift zum Pessimisten (vgl. den Kommentar zu 100, 25 f.). In der
Götzen-Dämmerung allerdings kehrt N. zu dem in GT entworfenen Bild von
Sokrates als dem Prototyp des Niedergangs zurück - eines Niedergangs, den
er nun ,Decadence4 oder ,Degenerescenz‘ nennt. Ausdrücklich weist N. in dem
GD-Kapitel ,Das Problem des Sokrates4 auf seine Diagnose der Sokrates-Figur
in GT: „Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen Nie-
dergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr
am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht: ich
erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechi-
schen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch (,Geburt der Tragö-
die4 1872)44 (KSA 6, 67, 21-68, 5). N. greift nun auch wieder die Hauptgesichts-
punkte auf, nach denen er in GT Sokrates als Niedergangsfigur charakterisiert:
Logik (69, 14) und Dialektik (70, 10) - vgl. GT 90, 31-34; 91, 7; 94, 13; 95, 24-
26 und die Einzelkommentare hierzu - sowie die Gleichsetzung von Vernunft,
Tugend und Glück. Auch die schon in GT dem Sokrates angelastete rationalisti-
sche Abirrung vom natürlichen Instinkt und die Abwertung des „Instinkts“ (GT
13, 89, 24 und 90, 21-91, 14) kehrt nun in der verschärfenden Formel wieder:
„Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist die Formel für decadence“
(KSA 6, 73, 7-9). Und schon vorher wird, wie in GT, am Paradigma des Sokrates
der „Instinkt“ und das „Leben“ gegen Vernunft und Bewußtsein ausgespielt:
„Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell,
kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war
selbst nur eine Krankheit“ (KSA 6, 73, 3-6). Allerdings radikalisiert N. in GD
seine negative Interpretation der Sokrates-Figur, indem er sie über das Zerrbild
des instinktfeindlichen und lebensfeindlichen Rationalisten hinaus auch noch
aus der Perspektive eines inzwischen naturalistisch vergröberten Aristokratis-
mus abwertet: „Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niederen Volk:
Sokrates war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war“
(KSA 6, 68, 26-28), ja er spricht von seiner „Rhachitiker-Bosheit“ (KSA 6,
69, 14 f.).
Ein herausragendes Beispiel nicht für den Widerruf der in GT vertretenen
Positionen, sondern für Kontinuität, wenn auch eine von mancherlei Modifika-