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80 Die Geburt der Tragödie

Wissenschaft wie in der Religionswissenschaft und in der Psychologie. Nach
der großen Bedeutung, die Erwin Rohde dem Dionysoskult und der kollektiven
Ekstase in seinem Buch Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Grie-
chen (1894, 2. Auflage 1898) beigemessen hatte, verstand Jane Ellen Harrison
Dionysos als Gott des „limitless excess“ und die ,dionysische4 Religion als eine
im Unbewußten wurzelnde Religion, die der Religion der olympischen Götter
gegenüberstehe (Prolegomena to the Study of Greek Religion, 1903, 3. Auflage
Cambridge 1922; Themis: A Study of the Social Origins of Greek Religion, 1912,
2. Auflage Cambridge 1927). Unter den Leitbegriff des „Irrationalen“ stellte Eric
Robertson Dodds das Dionysische in seinem aufschlußreichen Werk The Greeks
and the Irrational (Berkeley und Los Angeles 1951, 5. Aufl. 1966; deutsch: Die
Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970). Er begriff es als ein in Spannung
zur Sphäre des Rationalen stehendes Grundelement der griechischen Kultur.
Dabei suchte er vorsichtig Affinitäten zur Psychoanalyse. Bereits N. hatte an
mehreren Stellen der Geburt der Tragödie - im Anschluß an Schopenhauer
und Wagner, insbesondere an dessen Schriften Oper und Drama und Das
Kunstwerk der Zukunft - das „Unbewußte“ ins Spiel gebracht. Die Lektüre von
Eduard von Hartmanns Werk Die Philosophie des Unbewußten. Versuch einer
Weltanschauung (1. Aufl. Berlin 1869), das er im Vorfeld der Tragödienschrift
sogar exzerpierte und dem er trotz der späteren Attacke auf Hartmanns Erfolgs-
buch (im 9. Kapitel der Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das
Leben) weitreichende Anregungen verdankte, bezeugt sein besonderes Inte-
resse an diesem Thema. Zur Geschichte des Dionysischen in der Wissenschaft
vgl. Albert Henrichs: Löss ofSelf, Suffering, Violence: The Modern View of Diony-
sos from Nietzsche to Girard, in: Harvard Studies in Classical Philology 88
(1984), S. 219-233.
Das schon längst vor N.s Tragödienschrift vorhandene und bereits in der
Antike präformierte Gegensatzpaar Apollinisch - Dionysisch (vgl. den ausführ-
lichen Kommentar zu 25, 4-6) hatte N. selbst in seiner Tragödienschrift analo-
gisierend auf die philosophischen Kategorien Schopenhauers („Wille“ und
„Vorstellung“), psychologisierend auf Grundtriebe und elementare Zustände
(„Rausch“, „Traum“), schließlich kulturdiagnostisch auf historische Befindlich-
keiten angewandt. Derartige Analogisierungen und Metaphorisierungen, die
früher vor allem poetologische Bedeutung erlangt hatten (vgl. den Kommentar
zu 25, 4-6), sprengten nach N. alle begrifflichen Konturen. Die Konjunktur der
Korrelation Dionysisch - Apollinisch erfaßte die Antithesen Klassik - Roman-
tik, Geist - Leben, Intellekt - Instinkt, rational - irrational. Das alles war in
der Tragödienschrift schon angelegt, uferte dann aber ins Beliebige aus. Die
psychologisch wie zeitdiagnostisch differenzierte Gestaltung in Thomas Manns
Erzählung Der Tod in Venedig verband sich mit einer Anwendung auf das
 
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