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82 Die Geburt der Tragödie

S. 859). „Im Lichte unserer Erfahrung“, das hieß für Thomas Mann: aus der
Erfahrung des Nationalsozialismus. N. schrieb unter dem Eindruck der Epigo-
nen- und Decadence-Stimmung des 19. Jahrhunderts und schlug sich deshalb
auf die Seite „des instinkthaften Lebens“. Auch wenn er erst im 20. Jahrhun-
dert seine größte Wirkung hatte, eine Wirkung, die oft in einer einseitigen und
vergröbernden Vereinnahmung bestand, blieb er doch ein Sohn des 19. Jahr-
hunderts.
Die literarische und zugleich schon historische Reflexion auf N.s Wirkung
bestimmt die prominentesten Zeugnisse seiner Wirkungsgeschichte: Musils
Mann ohne Eigenschaften und Thomas Manns Doktor Faustus. Bei beiden Auto-
ren spielt die mit der Tragödienschrift beginnende rauschhaft „dionysische“
Weltanschauung und die Wagner-Nietzsche-Konstellation eine wesentliche
Rolle. Musil gestaltete in großen Kapitelsequenzen seines Romans das Doppel-
phänomen Wagner-Nietzsche satirisch-kulturdiagnostisch aus (hierzu: Renate
von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman ,Der Mann
ohne Eigenschaften. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken,
Münster 1966; Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epo-
chenroman ,Der Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 2005, S. 107-200). Meh-
rere von Thomas Manns Erzählungen stehen schon bald nach 1900 im Zeichen
Wagners und N.s. Der unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe geschrie-
bene Roman Doktor Faustus (1947) ist durchgehend auf N.s Lebensweg und
die Grundstrukturen seines Denkens transparent. Thomas Mann verstand das
Schicksal seines Protagonisten Adrian Leverkühn aus einem zentralen,
zugleich zeitbedingten Problem N.s: aus dem Decadence-Syndrom. Es führt zur
Flucht in den Irrationalismus aus der Verzweiflung des sich selbst als unschöp-
ferisch empfindenden modernen Intellektuellen. Die Frage ist, zugespitzt, wie
bei höchster geistiger Klarheit noch Schöpfertum zu realisieren sei - wie aus
Intellektualität noch Genialität hervorgehen könne. Thomas Mann antwortet
pessimistisch: die Flucht in den Irrationalismus, in den Rausch, den N. als das
„Dionysische“ gepriesen hatte, ist die einzige, aber illegitime Möglichkeit; sie
ist Teufelswerk, führt in Wahnsinn und Destruktion. Zu Th. Mann und N.:
Gunilla Bergsten: Thomas Manns Doktor Faustus. Untersuchungen zu den Quel-
len und zur Struktur des Romans, 2. Aufl. Tübingen 1974; Heinz-Peter Pütz:
Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann, Bonn 1963; H. P.
Pütz: Thomas Mann und Nietzsche, in: Thomas Mann und die Tradition, hg.
von H. P. Pütz, Frankfurt 1971, S. 225-249. Trotz seiner finalisierenden
geschichtlichen Perspektive läßt dieser Roman noch deutlich die bis auf seine
allerersten Anfänge im Jahre 1903 zurückreichende Epigonen- und Decadence-
Problematik erkennen, die für N. seit seiner Erstlingsschrift fundamental war.
 
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