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84 Die Geburt der Tragödie

wie sie sich historisch und der Zeitfolge nach daraus loswand, so kann man
auch sagen, daß sie poetisch und dem Geiste [!] nach aus demselben entstan-
den“ (Friedrich Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann
u.a., Bd. 5: Friedrich Schiller Dramen IV, hg. von Matthias Luserke, Frankfurt
1996, S. 285 f.). Zu N.s auf Schopenhauers Philosophie gründender Konzeption
des „Geistes der Musik“ vgl. den Kommentar zu 51, 18-24.
23, 1 Vorwort an Richard Wagner] Im Februar 1871 hatte N. ein viel längeres
und auch anders konzipiertes Vorwort an Richard Wagner verfaßt, das im Nach-
lass erhalten blieb (KSA 7, 351-357). Er versah es am Ende mit dem Datum:
„Lugano am 22. Februar 1871, / am Geburtstage Schopenhauers“. Dieses
ursprüngliche Vorwort zerfällt in heterogene Teile. Auf den ersten Seiten
behandelt N. das Thema der „griechischen Heiterkeit“, das dann auch für die
ausgeführte Tragödienschrift von Bedeutung ist und zu dem er, wie aus nach-
gelassenen Notizen hervorgeht, eine eigene Abhandlung erwog. Darauf folgt
eine Partie über „die deutsche Wiedergeburt der hellenischen Welt“ (353,
31 f.), auf die sich seine „Hoffnungen“ richten, insbesondere auf den „zukünf-
tige[n] Helde[n] der tragischen Erkenntniß“ (353, 27 f.; 354, 11 f.). Die Ausfüh-
rungen gipfeln in einer längeren Schlußpartie, in der sich die „Hoffnungen“
nicht auf „Volk“, „Staat“ und „Menschheit“ richten, sondern auf „den großen
,Einzelnen“4, der „außerhalb der Zeit“ steht, auf „die großen Genien“ sowie
auf die „Erzeugung des Genius“ (354-356). Diese Hoffnungen verbinden sich
mit einer Polemik gegen den „Liberalismus“ und die „Bequemlichkeitsdoktri-
nen des liberalen Optimismus“ (356, 28 f.), um in einer Vision des „tragischen
Menschen“ und seiner „Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken“ zu
enden, aus der erst die wahre „Heiterkeit“ entstehen könne (356, 31 f.).
23, 2-18 Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten [...] ferne zu halten [...],
vergegenwärtige ich mir den Augenblick, in dem Sie, mein hochverehrter Freund,
diese Schrift empfangen werden [...] mit Ihnen wie mit einem Gegenwärtigen
verkehrte und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben
durfte.] N. sandte das ungebundene Vorausexemplar der Geburt der Tragödie
am 2. Januar 1872 nach Tribschen an Richard Wagner. Das hier Angekündigte
trifft für GT im Ganzen tatsächlich zu: Vieles liest sich wie in „Gegenwart“
Wagners und in seinem Sinne geschrieben, oft auch mit direkten Nennungen
und Zitaten aus seinen Schriften oder mit zitatartigen Anklängen, unter Her-
vorhebung auch der gemeinsamen Orientierung an Schopenhauer. Noch in sei-
nem Versuch einer Selbstkritik, den er der neuen Ausgabe von 1886 voran-
stellte, konstatiert N., seine Erstlingsschrift habe sich an Richard Wagner „wie
zu einem Zwiegespräch“ gewandt (13, 31 f.). Der weitausladende Anfangssatz,
im ciceronianischen Periodenbau gehalten, den Schopenhauer pflegte, ist eine
 
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