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88 Die Geburt der Tragödie

Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen,
als das Kennzeichen philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur
Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch
zur Wirklichkeit des Traumes“, 26, 33-27, 4). Anfang 1871 bewarb sich N. um
den philosophischen Lehrstuhl in Basel und schrieb in einem Brief, er müsse
sich deshalb auch philosophisch ausweisen.
25, 2-4 Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben,
wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit
der Anschauung gekommen sind] Die „ästhetische Wissenschaft“ hatte gerade
in den Jahren vor der Entstehung der Tragödienschrift durch viel beachtete
Werke und Debatten neue Aktualität gewonnen (vgl. NK 127, 22-27). Sie war
durch Baumgarten in seiner 1750 erschienenen Aesthetica begründet worden
und hatte nach Kants Kritik der Urteilskraft und nach Schillers auch für N.
wirkungsreichen philosophisch-ästhetischen Schriften im 19. Jahrhundert
durch Hegels Ästhetik eine umfassende begriffliche und logisch-systematische
Ausformung erfahren. Dagegen wendet sich N., getreu dem von Schopenhauer
übernommenen Antihegelianismus, indem er sich dafür ausspricht, die Ästhe-
tik nicht auf „logische Einsicht“ (zur prinzipiellen Ablehnung des Logischen
vgl. die Erläuterung zu 90, 31-91, 9), sondern - und vor allem, wie sich im
Folgenden zeigt - auf die „unmittelbare Sicherheit der Anschauung“ zu grün-
den. N.s Begriff der „Anschauung“ meint nicht das sinnliche und deshalb
immer partikulare Anschauen oder ein bloß subjektives Meinen, sondern ganz-
heitliche Intuition (intueri = anschauen) vor allem verstandesmäßigen und dis-
kursiven Denken. Daher spricht N. von der „unmittelbaren“ Sicherheit der
Anschauung. Die schon in der Antike vorhandene Unterscheidung zwischen
intuitivem und diskursivem Erkennen spielt in der Philosophie von Leibniz
über Kant, Schelling, Schopenhauer bis zu Eduard von Hartmann eine bedeu-
tende Rolle, mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Dabei kommt auch der
Begriff des „Symbolischen“ ins Spiel, den N. in GT in einer noch näher zu
erläuternden Weise immer wieder verwendet.
Leibniz nahm „ursprüngliche Begriffe“ an (notiones primitivae), die nur
auf intuitiver Erkenntnis beruhen („Notionis distinctae primitivae non alia
datur cognitio quam intuitiva, ut compositarum plerumque cogitatio non nisi
symbolica est“; G. W. Leibniz, Meditationes de cognitione, veritate et ideis
(1684), in: ders., Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Berlin
1875-1890, Bd. 4, S. 423). Kant erklärte die Unterscheidung oder sogar Entge-
gensetzung von symbolischer und intuitiver Vorstellungsart für falsch, weil
„die symbolische nur eine Art der intuitiven ist“ (Kritik der Urteilskraft, AA 5,
351), und zwar deshalb, weil durch eine symbolische Darstellung ein Vernunft-
begriff nur auf „analoge“ Weise (die N. gerade bevorzugte) zur Anschauung
 
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