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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 24-25 89

kommt. Nachdem im deutschen Idealismus der Begriff der „Anschauung“ als
„intellektuale Anschauung“ (bei Fichte: „intellektuelle Anschauung“) die
Grenzlinie überschritten hatte, die Kant noch zog, war der romantischen Auf-
wertung des intuitiven Erkennens die Bahn bereitet.
Schopenhauer bezeichnet es als den „Grundzug meiner Philosophie“, daß
er den „großen, bisher zu wenig beachteten Unterschied, ja, Gegensatz zwi-
schen dem anschauenden und dem abstrakten oder reflektirten Erkennen“ her-
vorhebt (Die Welt als Wille und Vorstellung II, 1. Buch, Kapitel 7, Frauenstädt,
Bd. 3, S. 96). In seiner Kritik der Kantischen Philosophie (1819) kritisiert Scho-
penhauer den „großen Fehler Kants [...], daß er die anschauliche und die abs-
trakte Erkenntniß nicht gehörig gesondert hat“ (Frauenstädt, Bd. 2, S. 517).
Von der allen Menschen möglichen intuitiven Erkenntnis ausgehend, sei es
„das Geschäft des Philosophen“, das intuitiv Erkannte „in ein abstraktes Wis-
sen, in die Reflexion“ zu überführen (S. 452). Doch schon Kant zufolge fängt
„alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen
und endigt mit Ideen“ (Kritik der reinen Vernunft B 730); sie „hebt von den
Sinnen an, geht von da zum Verstände, und endigt bei der Vernunft“ (B 355).
Vor diesem Hintergrund in der philosophischen Diskussion ist N.s Berufung
auf die „unmittelbare Sicherheit der Anschauung“ zu sehen. Schopenhauer
hatte mit dem Begriff der „Anschauung“ noch eine spezifische „Objektivität“
und „Genialität“ und deutliche Reflexe von Kants ästhetischer Theorie vom
„interesselosen Wohlgefallen“ (Kritik der Urteilskraft) verbunden: „so ist
Genialität nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d. h.
objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene
Person, d.i. den Willen, gehenden. Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich
rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die
Erkenntniß, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem
Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus
den Augen zu lassen“ (Die Welt als Wille und Vorstellung I, 3; Frauenstädt Bd. 2,
S. 218 f.).
Insgesamt ist die am Anfang von GT betonte „unmittelbare Sicherheit der
Anschauung“ eine Huldigung an Schopenhauer. In der Welt als Wille und Vor-
stellung I: Erstes Buch § 14 wendet sich Schopenhauer gegen den „Irrthum [...]
daß nur das Bewiesene vollkommen wahr sei und jede Wahrheit eines Bewei-
ses bedürfe; da vielmehr im Gegentheil jeder Beweis einer unbewiesenen
Wahrheit bedarf, die zuletzt ihn, oder auch wieder seine Beweise, stützt: daher
eine unmittelbar begründete Wahrheit der durch einen Beweis begründeten
so vorzuziehen ist, wie Wasser aus der Quelle dem aus dem Aquädukt [...]
(Auszunehmen ist allein die auf nichtanschauliche, aber doch unmittelbare
Kenntniß der Vernunft von ihren eigenen Gesetzen gegründete Logik). Nicht
 
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