94 Die Geburt der Tragödie
satz des „Apollinischen“ und „Dionysischen“. Im Menschen, so schreibt Schel-
ling in der Philosophie der Offenbarung, „soweit ihm ein Strahl von
Schöpfungskraft verliehen ist, finden wir dasselbe Verhältniß, diesen selben
Widerspruch, eine blinde, ihrer Natur nach schrankenlose Produktionskraft,
der eine besonnene, sie beschränkende und bildende, eigentlich also negi-
rende Kraft in demselben Subjekt entgegensteht [...] Nicht in verschiedenen
Augenblicken, sondern in demselben Augenblick zugleich trunken und nüch-
tern zu seyn, dieß ist das Geheimniß der wahren Poesie. Dadurch unterschei-
det sich die apollinische [!] Begeisterung von der bloß dionysischen [!]“ (Philo-
sophie der Offenbarung, 2. Theil, in: F.WJ. v. Schelling: Sämmtliche Werke, hg.
u. eingeleitet von Karl Friedrich August Schelling, 14 Bde, Stuttgart u. Augsburg
1856-61, 2. Abtheilung, 4. Band, Augsburg 1858, S. 25; Neudruck, Darmstadt
1966-1968, Bd. 2, S. 25).
Der poetologische Topos der „nüchternen Trunkenheit“ (sobria ebrietas,
peOp vpcpäAioq), den Hölderlin in seinem Gedicht Hälfte des Lebens am ein-
drucksvollsten gestaltete und den auch Schelling in dem zitierten Passus über-
nahm, geht auf die kanonische Schrift des Pseudo-Longinos Über das Erhabene
zurück. N., der während seiner Bonner Studienzeit (1864/65) an einer kriti-
schen Edition des Pseudo-Longinos arbeitete, fügte diesen Topos in die
Abhandlung Die dionysische Weltanschauung, eine Vorstufe von GT, folgender-
maßen ein: „So muß der Dionysosdiener [der vorher genannte „dionysische
Künstler“] im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der
Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im
Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlerthum“ (KSA 1, 555, 33-
556, 2). Die Vorstellung eines „dionysischen Künstlers“ entnahm N. der von
ihm herangezogenen wissenschaftlichen Literatur: dem während der Arbeit an
der Tragödienschrift immer wieder aus der Universitätsbibliothek Basel entlie-
henen Band 83 der großen Enzyklopädie von Erseh und Gruber, in der Fried-
rich Wieseler eine unübertroffene Summe zum griechischen Theaterwesen, sei-
ner Entstehung aus dem Dionysoskult und der fortdauernden Verbindung mit
diesem bietet sowie die zeitgenössische gelehrte Literatur hierzu umfassend
dokumentiert. In diesem Artikel ist von den „Dionysischen Künstlern“ die Rede
(Sp. 172 und 184), was im Kontext des antiken Theaterwesens auf die tatsäch-
lich so genannten Theaterleute (Techniten), insbesondere auf die organisierten
Schauspielergilden zu beziehen ist. Sie breiteten sich mit den Theaterbauten
und immer in Verbindung mit dem Dionysoskult über zahlreiche Orte des Mit-
telmeerraums aus. Dementsprechend lautet die Überschrift der diesem Thema
gewidmeten Ausführungen ,Anlagen für die dion.(ysischen} Künstler4 (Allge-
meine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste [...] herausgegeben von J. S.
Erseh und J. G. Gruber. Erste Section A - G. Dreiundachtzigster Theil. Leipzig: F.
A. Brockhaus 1866).
satz des „Apollinischen“ und „Dionysischen“. Im Menschen, so schreibt Schel-
ling in der Philosophie der Offenbarung, „soweit ihm ein Strahl von
Schöpfungskraft verliehen ist, finden wir dasselbe Verhältniß, diesen selben
Widerspruch, eine blinde, ihrer Natur nach schrankenlose Produktionskraft,
der eine besonnene, sie beschränkende und bildende, eigentlich also negi-
rende Kraft in demselben Subjekt entgegensteht [...] Nicht in verschiedenen
Augenblicken, sondern in demselben Augenblick zugleich trunken und nüch-
tern zu seyn, dieß ist das Geheimniß der wahren Poesie. Dadurch unterschei-
det sich die apollinische [!] Begeisterung von der bloß dionysischen [!]“ (Philo-
sophie der Offenbarung, 2. Theil, in: F.WJ. v. Schelling: Sämmtliche Werke, hg.
u. eingeleitet von Karl Friedrich August Schelling, 14 Bde, Stuttgart u. Augsburg
1856-61, 2. Abtheilung, 4. Band, Augsburg 1858, S. 25; Neudruck, Darmstadt
1966-1968, Bd. 2, S. 25).
Der poetologische Topos der „nüchternen Trunkenheit“ (sobria ebrietas,
peOp vpcpäAioq), den Hölderlin in seinem Gedicht Hälfte des Lebens am ein-
drucksvollsten gestaltete und den auch Schelling in dem zitierten Passus über-
nahm, geht auf die kanonische Schrift des Pseudo-Longinos Über das Erhabene
zurück. N., der während seiner Bonner Studienzeit (1864/65) an einer kriti-
schen Edition des Pseudo-Longinos arbeitete, fügte diesen Topos in die
Abhandlung Die dionysische Weltanschauung, eine Vorstufe von GT, folgender-
maßen ein: „So muß der Dionysosdiener [der vorher genannte „dionysische
Künstler“] im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der
Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im
Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlerthum“ (KSA 1, 555, 33-
556, 2). Die Vorstellung eines „dionysischen Künstlers“ entnahm N. der von
ihm herangezogenen wissenschaftlichen Literatur: dem während der Arbeit an
der Tragödienschrift immer wieder aus der Universitätsbibliothek Basel entlie-
henen Band 83 der großen Enzyklopädie von Erseh und Gruber, in der Fried-
rich Wieseler eine unübertroffene Summe zum griechischen Theaterwesen, sei-
ner Entstehung aus dem Dionysoskult und der fortdauernden Verbindung mit
diesem bietet sowie die zeitgenössische gelehrte Literatur hierzu umfassend
dokumentiert. In diesem Artikel ist von den „Dionysischen Künstlern“ die Rede
(Sp. 172 und 184), was im Kontext des antiken Theaterwesens auf die tatsäch-
lich so genannten Theaterleute (Techniten), insbesondere auf die organisierten
Schauspielergilden zu beziehen ist. Sie breiteten sich mit den Theaterbauten
und immer in Verbindung mit dem Dionysoskult über zahlreiche Orte des Mit-
telmeerraums aus. Dementsprechend lautet die Überschrift der diesem Thema
gewidmeten Ausführungen ,Anlagen für die dion.(ysischen} Künstler4 (Allge-
meine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste [...] herausgegeben von J. S.
Erseh und J. G. Gruber. Erste Section A - G. Dreiundachtzigster Theil. Leipzig: F.
A. Brockhaus 1866).