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96 Die Geburt der Tragödie

der griechischen Tragödie im Hinblick auf Wagners ,Musikdrama4, dürfte auch
zur Erörterung dieser Verbindung von Dionysischem und Apollinischem in der
Tragödie geführt haben. In zwei Briefen vom November und Dezember 1871
bezieht sich N. auf die ihm bereits gedruckt vorliegende Abhandlung Wagners
über die Bestimmung der Oper (An Erwin Rohde, 23.11.1871, KSB 3, Nr. 170,
S. 247; An Franziska und Elisabeth Nietzsche, 3.12.1871, KSB 3, Nr. 172, S. 250).
Immer wieder war N. den von ihm bereits einleitend und horizontbildend
exponierten Begriffen des Apollinischen und des Dionysischen in den von ihm
herangezogenen wissenschaftlichen Werken begegnet. So schreibt Ludwig
Preller in seiner Griechischen Mythologie (2 Bde, Leipzig 1854, dort in Bd. 1,
S. 440), „daß beide Dienste, der Apollinische und der Bacchische, von entge-
gengesetzten Ausgängen zu Stimmungen und Wirkungen führten, welche sich
vielfach berührten und durchkreuzten, obwohl die Dionysische Gemüthsbewe-
gung durchweg eine gewaltsamere war als die Apollinische“. Bei Klein heißt
es (S. 103): „Der Apollinische und Bakchische Chorgesang, Päan und Dithy-
rambos, waren die zwei Brennpunkte gleichsam in der Umschwungsbahn
der hellenischen Lyrik zum Drama“; S. 106 spricht Klein von „Dionysischer
Schmerztrunkenheit“, S. 107 vom „Dionysischen Hyporchem“, S. 108 vom
„Apollinischen Päan“, S. 307 im Zusammenhang mit Hölderlins Sophokles-
Übersetzung von einem „Dionysisch-todestrunkenen“ Sterbelied.
Die noch für N. maßgebende produktionsästhetisch-psychologische Orien-
tierung der Begriffe „apollinisch“ und „dionysisch“ ist im Vorhinein unterlegt
durch die Bedeutung, die sowohl Apollon wie Dionysos in der Antike als Gott-
heiten der dichterischen und musikalischen Inspiration hatten. Als Gottheiten
der Dichtung wurden beide sogar zusammengesehen. Ein Zeugnis dafür ist
Ovid, Tristien V, 3. Aus Anlaß der „Liberalia“, des Festes, das die römischen
Dichter alljährlich zu Ehren ihrer Schutzgottheit Bacchus Liber (Dionysos) fei-
erten, evoziert Ovid den Dionysos-Mythos und wendet sich abschließend zu
Apollon, dem anderen Dichtergott. Dem Dionysos wird eine inspiratorische
Kraft zugeschrieben, dem Apollon eine gestalthaft-formende Kraft. Schon in
der ersten der homerischen Hymnen auf Dionysos, die nicht zufällig das Cor-
pus dieser Hymnen eröffnet, heißt es: „Wir, die Dichter, beginnen und enden
mit dir unsere Gesänge; ohne an dich zu denken, ist es nicht möglich, einen
heiligen Gesang zu erfinden“ (V. 17-19). Traditionbildend wirkten vor allem
Horazens Bacchus-Oden, die den Gott als Inspirationsquell einer wild-natur-
haften Poesie feiern. Gleich am Beginn von carmina II, 19 sagt der in der Rolle
des Inspirierten sprechende Dichter, er habe Bacchus weit draußen in der wil-
den Natur erblickt, wie er Gesänge lehrte („Bacchum [...] carmina vidi docen-
tem“).
Apollo erscheint in der Antike wie in der humanistischen Bildungstradition
als der Gott der Dichtung, der auf der Leier, der Kithara, spielt und so Dicht-
 
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