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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 28-29 115

das in der griechischen Literatur den Wirkungen des Weines zugeschriebene
„Vergessen“ der Sorgen und Mühen des Normaldaseins, sondern auch an die
dionysische Ekstase, wie sie etwa im Treiben der Mänaden zum Ausdruck
kommt.
29, 7f. in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern] Sie sind im 15. und
16. Jahrhundert im Elsaß bezeugt, als besondere Form der seit dem Mittelalter
in Europa epidemisch verbreiteten Tanzekstase. N.s Quelle ist die Monographie
von J. F. K. Hecker: Die Tanzwuth - eine Volkskrankheit im Mittelalter, Berlin
1832 (vgl. NL 1869, 1[34], KSA 7, 19), darin besonders S. 128ff. In dem Basler
Vortrag Das griechische Musikdrama, welcher der Behandlung dieses Themas
in GT vorangeht, heißt es genauer und ausführlicher: „Hier ist alles tiefster
Instinkt: jene ungeheuren dionysischen Schwarmzüge im alten Griechenland
haben ihre Analogie in den S. Johann- und S. Veitstänzern des Mittelalters, die
in größter, immer wachsender Masse tanzend singend und springend von Stadt
zu Stadt zogen. Mag auch die heutige Medicin von jener Erscheinung als von
einer Volksseuche des Mittelalters sprechen: wir wollen nur festhalten, daß
das antike Drama aus einer solchen Volksseuche erblüht ist, und daß es das
Unglück der modernen Künste ist, nicht aus solchem geheimnißvollen Quell
entflossen zu sein. Es ist nicht etwa Muthwille und willkürliche Ausgelassen-
heit, wenn in den ersten Anfängen des Dramas wildbewegte Schwärme, als
Satyrn und Silene kostümirt, die Gesichter mit Ruß Mennig und andern Pflan-
zensäften beschmiert, mit Blumenkränzen auf dem Kopf, durch Feld und Wald
schweiften: die allgewaltige, so plötzlich sich kundgebende Wirkung des Früh-
lings steigert hier auch die Lebenskräfte zu einem solchen Übermaß, daß eksta-
tische Zustände, Visionen und der Glaube an die eigne Verzauberung aller-
wärts hervortreten, und gleichgestimmte Wesen schaarenweise durchs Land
ziehen. Und hier ist die Wiege des Dramas. Denn nicht damit beginnt dasselbe,
daß jemand sich vermummt und bei Anderen eine Täuschung erregen will:
nein vielmehr, indem der Mensch außer sich ist und sich selbst verwandelt und
verzaubert glaubt“ (KSA 1, 521,11-33). Noch in seiner Schrift Zur Genealogie der
Moral kommt N. auf die „St. Veit- und St. Johann-Tänzer“ zu sprechen (GM III
21, KSA 5, 391, 30), indem er sie, nunmehr entschieden pathologisierend, als
an „epileptischen Epidemien“ und kollektiven Neurosen Erkrankte auffaßt.
29, 8 f. die bacchischen Chöre] Anders als unser Wort „Chor“ bezeichnet das
entsprechende griechische Wort xopöq nicht nur einen Chorgesang, sondern
zugleich einen damit verbundenen Tanz. Unmittelbar vor der zu erörternden
Stelle (29, 7) ist von „Schaaren, singend und tanzend“ die Rede. Dionysos
selbst ist der Gott des Tanzes. In einem Chorlied der Antigone, einem Preislied
zu seinen Ehren, feiert ihn Sophokles als den (hier mit seinem Kultnamen
 
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