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120 Die Geburt der Tragödie

(vgl. den Kommentar zu 29, 8 f.). In seiner früheren Schrift Das Kunstwerk der
Zukunft (1849) hatte Wagner die Siebte Symphonie als eine „Apotheose des
Tanzes“ gepriesen: „Aller Ungestüm, alles Sehnen und Toben des Herzens wird
hier zum wonnigen Übermuthe der Freude, die mit bacchantischer Allmacht
uns durch alle Räume der Natur, durch alle Ströme und Meere des Lebens
hinreißt, jauchzend selbstbewußt überall, wohin wir im kühnen Takte dieses
menschlichen Sphärentanzes treten. Diese Symphonie ist die Apotheose
des Tanzes selbst: sie ist der Tanz nach seinem höchsten Wesen, die seligste
That der in Tönen gleichsam idealisch verkörperten Leibesbewegung“ (GSD III,
94). Ausdrücklich auf „R. Wagners Andeutung“ weist der Rezensent einer auch
von N. besuchten Aufführung der Siebten Symphonie, indem er sie mit den
Dionysosfesten in Athen assoziiert. Über die von Wagner dirigierte Aufführung
am 20. Dezember 1871, also kurz nachdem N. die Tragödienschrift abgeschlos-
sen hatte, heißt es in dieser Rezension (von Richard Pohl: Das Wagner-Concert
in Mannheim, in: Musikalisches Wochenblatt 3, 1872, S. 39): „Will man sich
über die inneren Vorgänge der A-Dur-Symphonie aber durchaus ein konkretes,
äußerlich faßbares Bild entwerfen, so denke man sich gleichfalls nach R. Wag-
ners Andeutung - die Dionysosfeste in Athen, wo dann die Lenäen, mit dem
Kelterfest und den Prozessionen, die Anthesterien mit ihren geheimen Opfern,
dann die großen städtischen Dionysien mit ihren Komödien und endlich die
triaterische [statt: trieterische] Dionysosfeier der Mänaden, zur Zeit der Winter-
sonnenwende, in den vier Sätzen der Symphonie ihr künstlerisches Abbild
finden mögen“. Unter dem Eindruck dieser Aufführung schrieb N. an Erwin
Rohde nach dem 21. Dezember 1871 (KSB 3, Nr. 177, S. 256, Z. 37-41): „Mir gieng
(es} wie einem, dem eine Ahnung sich endlich erfüllt. Denn genau das ist
Musik und nichts sonst! Und genau das meine ich mit dem Wort,Musik4, wenn
ich das Dionysische schildere, und nichts sonst!“
29, 29 Jetzt ist der Sclave freier Mann] Am bekanntesten ist dies von den
römischen Saturnalien (vgl. den Kommentar zu 29, 18-25). Bachofen schreibt
in seinem Versuch über die Gräbersymbolik der Alten (1859), den N. im Juni
1871 aus der Basler Universitätsbibliothek entlieh, solch eine temporäre Aufhe-
bung von Standesgrenzen der „dionysischen Religion“ zu: „Das staatlich-politi-
sche Leben bringt Unterschiede der Stellung, Beschränkung und gänzliche
Aufhebung der Freiheit. Demgegenüber enthält die Dionysische Religion eine
Zurückführung des Daseins auf das Gebiet der reinen Stofflichkeit und der bloß
leiblichen Existenz, die für alle Glieder der großen menschlichen Gesellschaft
dieselbe, ihrer Natur nach frei und gleich ist. Wenn der staatliche, civile
Gesichtspunkt überall Schranken errichtet, die Völker und Individuen trennt,
und das Prinzip der Individualität bis zum vollendeten Egoismus ausbildet, so
führt dagegen Dionysos alles zur Vereinigung, alles zum Frieden und zur cpiÄicx
 
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