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122 Die Geburt der Tragödie

übernommenen - Wertung des principium individuationis als eines uneigentli-
chen und scheinhaften Prinzips, hinter dem sich der Wille als das Eigentliche
- N.s „Ur-Eines“ - verbirgt. Allerdings versteht N. den Vorgang der Entindivi-
dualisierung dionysisch-rauschhaft im Sinne der pantheistischen Tradition
und der Romantik sowie im Gefolge von Wagners Beethoven-Interpretation.
Vom Individuum wird die Entindividualisierung ambivalent erfahren: einer-
seits als schmerzvoller Untergang, wie ihn die Tragödie darstellt, andererseits
als rauschhaft-lustvolles Eingehen in das „Ur-Eine“.
30, 2-5 Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höhe-
ren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem
Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.] Als Gott des Tanzes und der mit
seinem Kult verbundenen tragischen Chöre vermittelt Dionysos das Erlebnis
enthusiastischer Gemeinsamkeit. Eine analoge Wahrnehmung ergibt sich für
N. im Hinblick auf Beethovens ,dionysische4 Siebte und seine Neunte Sympho-
nie, in deren Schlußchor die von Schillers Lied An die Freude vorgegebene
Vorstellung einer solchen „Gemeinsamkeit“ zum Ausdruck kommt.
30, 6 f. und die Erde Milch und Honig giebt] Schon das Alte Testament kennt
die Vorstellung eines utopisch-paradiesischen Reichs, in dem Milch und Honig
fließen (z. B. 2. Mose 3, 8). Im ,dionysischen4 Kontext der Tragödienschrift war
für N. jedoch eine entsprechende Stelle in den Bakchen des Euripides vorran-
gig. Mit dieser Hauptquelle des Dionysos-Mythos beschäftigte er sich während
der Entstehungszeit seiner Schrift intensiv. Davon zeugen zahlreiche Partien in
GT und, bis in zitatartige Übernahmen, in den Vorstufen. Im Einzugslied des
Chores, das leitmotivisch dem „Tanz“ und den anderen Äußerungsformen dio-
nysischer Ekstase gilt, heißt es (V. 142 f.): „Es strömt von Milch die Erde, sie
strömt von Wein, strömt vom Bienen-Nektar“ (pci öe yötÄotKTi tteöov, psi ö’
oivcüi, / psi öe psAioaäv vsKTOtpi).
30, 8 als Gott fühlt er sich] Diese zum ekstatischen Erlebnis gehörende Erhe-
bung läßt sich auch im Dionysoskult fassen. „Bakchen“ können die von Diony-
sos in Ekstase versetzten Mänaden insofern heißen, als sie in der Ekstase mit
dem Gott eins werden, denn ein Kultname des Dionysos ist ,Bakchos4. Erstmals
hatte Sophokles im König Ödipus (V. 211) den Dionysos mit dem selbständigen
Gottesnamen ,Bakchos4 bezeichnet.
30, 9-15 Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die
Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen [...]
des dionysischen Weltenkünstlers] Die Vorstellung, daß der Mensch in der Ek-
stase seinen Subjektstatus verliert und zum Objekt einer ihn überwältigenden
Macht wird, überträgt N. hier auf eine Kunst- und Künstler-Metaphysik, die
 
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