Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
132 Die Geburt der Tragödie

delnden Lust wie des maasslosen Schmerzes“ (S. 98). Westphals historische
Interpretation übernimmt N. nur zögernd mit der Wendung „Wenn die Musik
scheinbar bereits als eine apollinische Kunst bekannt war“. Westphal, S. 138:
„ihre [phrygische] Auletik, die des Gesanges entbehrt, ist an sich dem griechi-
schen Geiste etwas Fremdes, und Apollo, der Gott der musischen Kunst der
Hellenen, kann jenen barbarischen Musikern nicht anders als feindselig
gesinnt sein. Erst spät [!] fand dieser Zweig der Musik in den apollinischen
Agonen zu Delphi Zutritt, als ein echt [!] hellenischer Künstler Sakkadas ihn
im hellenischen Geiste umgeformt hatte“. Schon Karl Otfried Müller, dessen
Werk Die Dorier (vgl. NK 32, 16-18) zu N.s Lektüren gehörte, hatte - ausgehend
von antiken Quellen - zwischen „dorischer“ im Sinne von ,echt-griechischer
Musik und phrygisch-asiatischer Musik unterschieden und sie mit den beiden
Instrumenten und Göttern verbunden.
Indem N. von dem ,,einheitliche[n] Strom des Melos“ in der „dionysischen
Musik“ spricht, projiziert er moderne, vor allem romantische Formen der Musik
zurück, insbesondere meint er Wagners „unendliche Melodie“; allerdings
konnte er den spezifisch rauschhaften Charakter der dionysischen Musik, die
„erschütternde Gewalt des Tones“, aus der - auch für ihn - wichtigsten Quelle
des Dionysos-Kults entnehmen, aus den Bakchen des Euripides, in deren Ein-
zugslied der Chor singt: „Bakchischer Pauke Laut mischten sie / Phrygischer
Flöten geblasenem Klang, / Der süß tönt, und sie gaben Mutter Rhea in die
Hand sie; / Die erdröhnt nun bei den Heilrufen der Bakchen“ (V. 126-129:
ßotKxcla ö’ äpa ovvtövüj / KEpaaav pövßöa Opuyicov / avAcov nvEvpum porrpöq
te 'Psaq sq / x£pa ÖRKav, ktvttov svötapam BotKxäv).
Die „dionysische Musik“ kann also nicht, wie in manchen zeitgenössischen
Darstellungen, auf die phrygische „Flöte“ beschränkt werden, vielmehr gehö-
ren zu ihr auch die Pauken und ein wilder Lärm - alles zusammen ist nur
mit Vorbehalt als „Musik“ im Sinne des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen; „der
einheitliche Strom des Melos“ sowie die „durchaus unvergleichliche Welt der
Harmonie“ sind ahistorische Phantasien. In einem um 470 v. Chr. entstande-
nen Dithyrambos gibt Pindar seine idealtypische Vorstellung einer zu Ehren
des Dionysos-Bromios (des „Lärmenden“) veranstalteten dithyrambischen
Feier:
Vor der heiligen beginnt es,
Der großen Mutter, das Wirbeln der Pauken,
Hinein dröhnen die Klappern beim Feuerschein der Fackeln aus gelbli-
chem Kienholz,
Hinein hallt der Najaden lautes Stöhnen,
Wahnsinnsschreie reizen samt nackenwerfendem Taumel.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften