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136 Die Geburt der Tragödie

ganz[!] gehet im Symbol eine Idee auf, und erfaßt alle [!] unsere Seelenkräfte.
Es ist ein Strahl, der in gerader Richtung aus dem dunkelen Grunde des Seyns
und Denkens in unser Auge fällt und durch unser ganzes [!] Wesen fährt“
(2. Aufl. 1819, S. 70).
Nachdem die Romantik die Begriffe „Symbol“ und „Symbolisieren“ neu-
platonisch und naturmystisch aufgeladen und ihnen eine zentrale Bedeutung
für die ästhetische Theorie verliehen hatte (Friedrich Schlegel formulierte: „alle
Kunst ist symbolisch“, Fr. Schlegel, Philosophie des Lebens, 1827, in: Krit. Ausg.,
hg. von Ernst Behler u. a., Bd. 10, 1969, S. 232), begann nach der Jahrhundert-
mitte eine zweite Konjunktur des „Symbols“. Johannes Volkelt, N.s Basler Kol-
lege, konstatierte in seinem Werk Der Symbolbegriff und die neueste Ästhetik,
Jena 1876: „Im Mittelpunkte der Entwicklung der neuesten Aesthetik [sic] steht
der Symbolbegriff. Die gegenwärtigen Kämpfe auf ästhetischem Gebiete drehen
sich um ihn, mag er auch öfters unausgesprochen im Hintergründe stehen“
(S. 1). Aufschlußreich ist die aktuelle Diagnose Volkelts im Hinblick auf Wag-
ners und N.s Frontstellung gegen die von ihnen als formalistisch abgewertete
Musikästhetik des führenden zeitgenössischen Musik-Kritikers Eduard Hans-
lick (vgl. NK 127, 22-27), gegen die sie eine vom „Pathos“ getragene Gehaltsäs-
thetik stellten. „Der Symbolbegriff ist es“, schreibt er, „wodurch der ,Gehaltsäs-
thetik‘ zum Siege über den ästhetischen Formalismus verhülfen wird“ (S. 1).
Indem N. von symbolischen „Kräften“ spricht, zielt er wie mit dem Wort
„ungestüm“ auf Dynamisierung. Die Vorstellung einer „Gesammtentfesselung“
deutet auf Totalisierung, ebenso wie auch die „Welt der Symbole“, die „ganze
leibliche Symbolik“, die „volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzge-
bärde“, die „Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte“, die sich
zunächst auf den Dithyrambos und seinen „dionysischen“ Charakter beziehen;
unausgesprochen aber gelten diese Prädikationen bereits dem ,Gesamtkunst-
werk4 Wagners. Schon in der romantischen Literatur und Philosophie war die
Idee des Gesamtkunstwerks vorgegeben. Schelling läßt sogar eine Konzeption
erkennen, der Wagners Vorstellung vom universell-synthetischen „Musik-
drama“, seine damit verbundene Berufung auf die griechische Tragödie sowie
seine Ablehnung der modernen Oper entspricht. „Ich bemerke nur noch“,
schreibt Schelling in der schon 1802/1803 und 1804/1805 gehaltenen Vorlesung
über die Philosophie der Kunst, „daß die vollkommenste Zusammensetzung
aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie
und Malerei durch Tanz, selbst wieder synthetisirt die componirteste Theater-
erscheinung ist, dergleichen das Drama des Alterthums war, wovon uns nur
eine Karrikatur, die Oper, geblieben ist, die in höherem und edlerem Styl von
Seiten der Poesie sowohl als der übrigen concurrirenden Künste uns am ehes-
ten zur Aufführung des alten mit Musik und Gesang verbundenen Dramas
 
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