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144 Die Geburt der Tragödie

drücklich „weise“ (V. 502 f., 509). Den Geschlechtsfluch der Atriden, den N. als
drittes mythologisches Exempel aufbietet, hatte erstmals Aischylos in seiner
Atridentetralogie gestaltet und später dann Goethe in seine Iphigenie auf Tauris
einbezogen. In letzter Konsequenz wirkte er sich bei Orest aus, da er ihn
zwang, die eigene Mutter, Klytaimnestra, zu töten, um den von ihr getöteten
Vater Agamemnon zu rächen. Bezeichnenderweise verschweigt N. die Entsüh-
nung Orests sowohl bei Aischylos wie bei Goethe. Ebenso bezeichnend ist es,
daß er nach Aischylos und Sophokles den dritten der drei großen Tragiker
ausläßt, obwohl Euripides in Tragödien wie Medea und in den Bakchen nicht
minder furchtbares Leiden und blutige Greuel inszeniert. Denn dem Euripides
weist N. später in GT eine ganz andere, spezifisch untragische Bedeutung zu.
36, 8-13 Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster
Nöthigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass
aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen
apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götter-
ordnung der Freude entwickelt wurde] Hesiod erzählt in seiner Theogonie von
der Überwindung der alten Titanenherrschaft durch Zeus, den obersten der
olympischen Götter, in einem gewaltsamen Kampf. N. blendet sowohl Zeus,
den Repräsentanten der siegreichen olympischen Götterwelt, wie die Vorstel-
lung des Kampfes (die Titanomachie) aus, um seine Konzeption des Apollini-
schen psychologisierend zur Geltung zu bringen. Er spricht nicht von einem
„apollinischen Schönheitskampf“, sondern von „Schönheitstrieb“ und einem
„in langsamen Uebergängen“ sich vollziehenden Entwicklungsgeschehen. Aber
dieses Erklärungsmuster überträgt nur Schopenhauers Grundschema in der
Welt als Wille und Vorstellung: daß die Menschen, um vom unseligen „Willen“
eine - scheinhafte - Erlösung zu finden, sich eine Sphäre von schönen „Vor-
stellungen“ schaffen, auf die griechische Götterwelt.
36,14-16 Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begeh-
rende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können] Dies
ist aus der Perspektive der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formuliert, in
der die „Nerven“ und pathologische Nervenreizungen auch in Literatur und
Kunst eine immer größere Rolle spielten. Davon zeugen besonders N.s späte
Anti-Wagner-Schriften. Vgl. NK 20, 22-25. Mit dem „Leiden“ überträgt er wie-
derum ein Zentralelement Schopenhauers auf die Griechen. Das Wort „reiz-
bar“, zusammen mit dem „Leiden“, wiederholt sich in 37, 19 f.: „reizbarste Lei-
densfähigkeit“.
36, 20-22 die olympische Welt [...], in der sich der hellenische „Wille“ einen
verklärenden Spiegel vorhielt.] Zitierende Anspielung auf Schopenhauers Welt
 
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