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146 Die Geburt der Tragödie

diese beruht gerade auf der scheinhaften, weil durch „Wahnvorspiegelungen“
und „Illusionen“ (37, 18) ermöglichten Überwindung einer nicht idyllisierten,
sondern als schrecklich-titanisch aufgefaßten „Natur“. Die Begriffe „Natur“
und „Cultur“ erhalten hier eine ganz andere Bedeutung. Sie sind nach Scho-
penhauers Begriffspaar „Wille“ und „Vorstellung“ konfektioniert. Deshalb
kann es auch alsbald heißen (37, 31 f.): „In den Griechen wollte der ,Wille4 sich
selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen“. Der
Begriff des ,Anschauens4 hat hier wie in Schopenhauers Ästhetik die Bedeu-
tung von Kontemplation, durch die es gelingen soll, sich von der unseligen
Realität der „Willens“-Sphäre abzulösen und sich dadurch sogar zu erlösen.
4. Kapitel
Wie schon ganz am Beginn seiner Tragödienschrift arbeitet N. auch hier vom
ersten Satz an programmatisch mit Analogien (38, 9), die er mit Schopen-
hauers Grundvorstellungen unterlegt. Diese analogisierende Darstellungsart
bestimmt nochmals die Konstellation des Apollinischen und des Dionysischen
wie auch deren Exemplifizierung an einem Gemälde Raffaels und an histori-
schen „Perioden“. Das gesamte Kapitel bietet kaum weiterführende Einsichten
und dient eher als Übergang zum „eigentlichen Ziele“ (42, 14).
38, TJ f. eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den
Schein] „Erlösung“ ist ein Kernbegriff Schopenhauers, der leitmotivisch auch
dieses Kapitel der Tragödienschrift durchzieht. Indem Schopenhauer vom
Genie und von der Kunst als dem Reich des schönen Scheins spricht, zielt er
auf eine Erhebung über das konkrete Leben (in 38, 16 spricht N. vom „Tag
und seiner schrecklichen Zudringlichkeit“) in der distanzierten ästhetischen
Kontemplation. Sie gilt ihm als eine Möglichkeit der - zumindest vorüberge-
henden - Befreiung aus der Verstrickung in den unseligen „Willen“. Es handelt
sich um einen Lobpreis der ,Theorie4 im wörtlichen Sinne von „Schau“ und
„Anschauen“. Diese ,Theorie4 und die Kunst gehören zwar in die Sphäre der
„Vorstellung“, sie erhalten jedoch Erlösungsfunktion. Sie werden zu Mitteln
der Beruhigung, zu ,Quietiven4, und zu Möglichkeiten seelischer Entlastung im
Lebensdrang.
Schopenhauer versteht die endgültige, nicht durch Kunst, sondern durch
Askese zu erreichende „Erlösung“ vom Leiden als resignativen Übergang ins
Nichts mittels Selbstaufhebung des Willens, N. aber betont das aktive Hervor-
bringen des Scheins und entsprechend der Kunst. Dabei verwendet er psycho-
logisierend positive und dynamische Kategorien aus der Triebsphäre: wieder-
holt ist von „Lust“ die Rede (38, 15: „mit dieser inneren Lust am Schauen“;
 
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