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148 Die Geburt der Tragödie

39,14 f. jenes Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven
Künstlers] Den Begriff ,Depotenzieren‘ verwendet Schopenhauer in seinem Ver-
such über das Geistersehn, um Wachträume und somnambule Visionen physio-
logisch zu erklären: Darin arbeite das Traumorgan des Gehirns „unter einer
gewissen Depotenzirung des wachen, nach außen gerichteten Sinnesbewußt-
seins“ (Versuch über das Geistersehn, in: Parerga und Paralipomena I, Frauen-
städt, Bd. 5, S. 292). Wagner nimmt in seiner Beethoven-Schrift den Begriff des
Depotenzierens mit ausdrücklichem Hinweis auf Schopenhauer auf, um ihn
auf die Wirkung der Musik als der spezifisch amimetischen Kunst anzuwenden:
Sie depotenziere die sinnliche Realität und rege zur Erzeugung innerer Bilder
an (GSD IX, 75, 77, 109). N. meint mit dem „Depotenziren des Scheins zum
Schein“ die im Kunstwerk des „naiven“, d. h. unbewußt schaffenden Künstlers
stattfindende Depotenzierung der - in Schopenhauers Sinn - auch schon
scheinhaften „empirischen Realität“ (vgl. 38, 32-39, 4) hin zu einem noch wei-
tergehenden Grad des Scheinhaften.
Den Hintergrund dieser Sicht bildet die in Platons Politeia entwickelte Stu-
fenlehre, derzufolge die sinnlich wahrnehmbare Realität der Einzeldinge von
den ewigen Ideen abgeleitet sei und nur Schattenbilder, d. h. scheinhaft-unwe-
sentliche Phänomene im Vergleich zu den allein wesenhaften ewigen Urbil-
dern, den „Ideen“ biete. Die im Kunstwerk stattfindende Mimesis dieser an
sich schon scheinhaften Phänomene der Realität potenziert demnach das
Scheinhafte der Realität und depotenziert umgekehrt das „Wahrhaft-Seiende
und Ur-Eine“ (38, 29 f.), das Platon im Reich der Ideen ansiedelte und Schopen-
hauer auf den ontologischen Grund der „Welt“ übertrug, während er die „pla-
tonischen Ideen“ als Gegenstand der Kunst ansah. Schon längst war in der
italienischen Kunsttheorie gerade Raffael mit der platonischen Ideenlehre in
Zusammenhang gebracht worden: seinen Kunstwerken liege „una certa idea“
zugrunde, stellt Giovanni Pietro Bellori, „der namhafteste Kunstforscher und
Archäologe seiner Zeit“ (Erwin Panofsky), in einer wirkungsreichen Akademie-
Rede von 1664 fest, auf die Winckelmann in seiner epochemachenden Schrift
Über die Nachahmung der Griechen in der Malerei und Bildhauerkunst mit aus-
drücklichem Bezug auf Raffael zurückgriff.
39, 19-21 des ewigen Urschmerzes [...] des ewigen Widerspruchs, des Vaters
der Dinge.] In einem Heraklit-Fragment (22 B 53, Diels-Kranz) heißt es: „Der
Krieg ist von allem der Vater, von allem der König, und sowohl die Götter
brachte er zum Vorschein wie auch die Menschen, die einen machte er zu
Sklaven, die anderen zu Freien“ (nöXspoq ttöivtcüv psv norrfip ectti, ttöivtcüv öe
ßamXsvq, Kai Tovq psv Osovq sösi^s Tovq ös ötvOpcünovq, Tovq psv öovXovq
snoipaE Tovq ös sAsvOspouq).
 
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