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158 Die Geburt der Tragödie

seinerseits orientiert sich mit diesen Ausführungen an Kants Kritik der Urteils-
kraft, worauf N.s Formulierung „interesseloses Anschauen“ hinweist. Kant
zufolge beruhen alle echten ästhetischen Urteile auf einem „Wohlgefallen oder
Mißfallen ohne alles Interesse“ (AA 5, 211).
43, 9 f. die ganze chromatische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrun-
gen] Die chromatische Tonleiter erweitert das harmonische System der Dur-
und Moll-Tonleitern durch chromatische Halbtonschritte, welche die patheti-
schen Ausdrucksmöglichkeiten der Musik steigern können.
43, 10-12 Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den
Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde]
Die Parenthese „neben Homer“ ist nicht als Gleichstellung, sondern als Kon-
trast zu verstehen. Hass, Hohn und Leidenschaft werden in der biographischen
Archilochos-Interpretation zu dessen Charakterisierung oft verwendet, so etwa
in der von N. im Januar und April 1870 aus der Universitätsbibliothek Basel
entliehenen Geschichte der griechischen Literatur von Karl Otfried Müller (Bd. 1,
S. 228 ff.); ferner in dem im Dezember 1870 entliehenen Grundriß der Griechi-
schen Litteratur (Halle 1836-45) von Gottfried Bernhardy („Diese so mächtige
und reizbare, von so rücksichtsloser Leidenschaft bewegte Natur“, Bd. 2,
S. 336) sowie in dem in N.s eigener Bibliothek vorhandenen und von ihm zeit-
weise hochgeschätzten Werk von Rudolf Westphal: Geschichte der alten und
mittelalterlichen Musik, Breslau 1864, S. 115.
43,14-16 Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, gerade auch
das delphische Orakel, der Herd der „objectiven“ Kunst, in sehr merkwürdigen
Aussprüchen erwiesen hat?] Der Begriff „objectiv“ ist hier mit „apollinisch“
gleichzusetzen. Das delphische Orakel war dem Apollon geheiligt. In N.s Auf-
zeichnungen zu seiner Vorlesung über die griechischen Lyriker heißt es: „das
delphische Orakel im colonialen Zeitalter [d. h. im Zeitalter der griechi-
schen Kolonisierung der kleinasiatischen Küste und Süditaliens] ehrt dessen
Sänger Arch“ (KGW II 2, 179). N. bezieht sich auf ein in der biographischen
Tradition über Archilochos oft erwähntes Orakel.
43, 17 Schiller]. N. zitiert Schillers Brief an Goethe vom 18. 3. 1796. Auch
im Brief an Körner vom 25. 5.1792 spricht Schiller von einer ähnlichen dichteri-
schen Erfahrung: „Das Musikalische eines Gedichts schwebt mir weit öfter vor
der Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare Begriff vom
Innhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin“.
43, 27-30 Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik
hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers
mit dem Musiker] Die frühgriechische Lyrik war entweder monodisch oder
 
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