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Stellenkommentar GT 5, KSA 1, S. 43-45 161

mit der bildlos-amimetischen Welt der ,Musik4 die bildhafte Traumwelt. Das
zweimalige „Sehen“ (44, 19 f.: „wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir
sehen den berauschten Schwärmer Archilochus“) kennzeichnet die suggestiv
aus der vorgefaßten Konzeption heraus gesteuerte Vision, mit der sich N. selbst
zum Seher stilisiert.
44, 22-26 und jetzt tritt Apollo an ihn heran und berührt ihn mit dem Lorbeer.
Die dionysisch-musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam
Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragö-
dien und dramatische Dithyramben heissen.] Das „gleichsam“ signalisiert das
auf bloß metaphorischer Analogiebildung beruhende spekulative Verfahren. Es
dient dazu, mit der bildlosen, „dionysisch-musikalischen“ Verfassung die auf
„Bilder“ fixierte apollinische Dimension zu verbinden, die den Dichter erst zu
seinem gestalterischen Werk befähigt. Der Lorbeer gehört traditionell zu Apol-
lon und zur Dichterweihe, wie sie erstmals Hesiod in seiner Theogonie darstellt
(V. 22-35). Die Rede von den „Bilderfunken“ schlägt das Leitmotiv des folgen-
den Abschnitts an, der den „Bildern“ gilt. Die Aussage, daß „lyrische Gedichte
[...] in ihrer höchsten Entfaltung Tragödie und dramatische Dithyramben“ hei-
ßen, behauptet die Entstehung der Tragödie aus der lyrischen Dichtung und
leitet damit zu der zentralen These über, die Tragödie sei ursprünglich aus
dem Chor hervorgegangen.
45, 3 des zürnenden Achilles] Der Beginn von Homers Ilias nennt den „Zorn“
des Achill als alles bestimmenden Ursprung des Geschehens.
45, 23-27 In Wahrheit ist Archilochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende
und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilo-
chus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse
vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht] Hier kommt Schopenhauers
Lehre vom principium individuationis zum Tragen: Alles individuelle Leben
geht vom allgemeinen Urgrund des Seins aus und kehrt in ihn zurück - in die
Sphäre des „Willens“. Deshalb ist der „Genius“ kein individueller mehr, son-
dern „Weltgenius“, insofern durch ihn wie durch ein Medium dieser Urgrund
des Seins in seinem „Urschmerz“ sich kundtut. Damit kann das Individuum
Archilochos nur „symbolischer“ Ausdruck des Allgemeinen sein. Dem ent-
spricht in GT 7/8 und in GT 19 die Vorstellung, daß alle tragischen Helden in
ihrer jeweiligen Individualität nur „Masken“ des - mit dem „ewigen Sein“ des
Urgrundes gleichgesetzten - Dionysos seien. In einem Notat aus dieser Zeit
heißt es: „Es ist Dionysus, der, eingehend in die Individuation, seine Doppel-
stimmung ausläßt [= ausdrückt]: der Lyriker spricht von sich, er meint aber
nur den Dionysus“ (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[7], 221, 16-18).
 
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