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Stellenkommentar GT 6, KSA 1, S. 47-48 165

fen, dass sie dem Genre des Liedes angehören, und zwar des Liedes im
eigentlich volksmässigen Sinne. Zur Zeit, als Terpander und Klonas und ihre
sagenhaften Vorgänger ihre Nomoi [ritualisierte Gesänge] im streng-ernsten
sacralen Stile an den Festen der Götter vortrugen, hatte das Volk längst seine
eignen heiteren Weisen, durch die es die Lust seiner Ernte- und Weinlesefreu-
den erhöhte, aber die musikalische und rhythmische Form dieser Volkslieder
hatte bei jenen Vertretern des Nomos-Stiles keine Berücksichtigung gefunden,
sie galt dort gleichsam als etwas Profanes, was in den Kanon der bewussten
künstlerischen Normen nicht aufgenommen werden durfte. Das Volkslied
bewegte sich in Strophen, die Volksmelodien waren auf das Prinzip der Repeti-
tion basirt [...] Erst Archilochos ist der Meister, der diese Elemente des Volkslie-
des zur vollen Anerkennung und Berechtigung in der Kunst brachte“. In den
Aufzeichnungen zu seiner Vorlesung über die griechischen Lyriker griff N. auf
diese Ausführungen noch genauer zurück: „Er hat das Volkslied litteraturfähig
gemacht. (Als repetirte Melodien: durchcomponirte Texte dagegen die vöpoi.)
Er nahm den Volksrhythmus vollständig herüber, nicht so schüchtern wie Ter-
pander“ (KGW II 2, 115).
48, 13 perpetuum vestigium] „beständige Spur“, hier im Sinne von fortwäh-
rendes Zeugnis4.
48, 25-49,1 Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischer Welt-
spiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele Traumerscheinung
sucht und diese in der Dichtung ausspricht. Die Melodie ist also das
Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in meh-
reren Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und
nothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dich-
tung aus sich und zwar immer wieder von Neuem] Die Wendung „gilt uns“ am
Anfang dieser Partie signalisiert die konzeptionelle Überformung der Aussagen
über das Volkslied, die derjenigen der Aussagen über die Lyrik allgemein im
vorigen Kapitel entspricht: wieder ist diese Überformung so sehr von Schopen-
hauers Philosophie bestimmt, daß den einzelnen Aussagen über das Volkslied
und über andere musikalisch-lyrische Phänomene nur wenig historischer
Eigenwert zukommt. In das vorgegebene binäre Schema Dionysisch-Apolli-
nisch, das N. mit Schopenhauers Konstellation von „Wille“ und „Vorstellung“
korreliert, wird analogisch das Verhältnis von Musik und Dichtung allgemein
und hier speziell dasjenige von Melodie und Text des Volksliedes eingefügt.
Wie Schopenhauer den „Willen“ als Daseinsgrund darstellt, aus dem sekundär
die Welt der „Vorstellung“ hervorgeht, so läßt N. aus der Musik des Volksliedes,
aus der „Melodie“, den Text hervorgehen. Daß er von der „ursprünglichen
Melodie“ spricht, meint die Melodie als Ursprung, und indem sie sich eine
 
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