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170 Die Geburt der Tragödie

Qualität des Wesentlich-Ursprünglichen zuzuschreiben. Zur Untermauerung
dieser These wird der Chor als das Ursprünglich-Ganze und zugleich als Musik
interpretiert.
52,12-17 Diese Ueberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die
Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprüng-
lich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Verpflichtung nehmen,
diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in’s Herz zu sehen] Die
Problematik dieses Satzes liegt erstens in der Verbindung der Aussage, daß die
Tragödie aus dem Chor (den N. als „Musik“ interpretiert) entstanden ist, mit
der spekulativen Behauptung, der Chor sei schon die ursprüngliche dramati-
sche Form der Tragödie gewesen. Zweitens ist die Berufung auf eine angeblich
„mit voller Entschiedenheit“ vorliegende Überlieferung problematisch. Obwohl
N. im vorausgehenden Satz zutreffend von den „zerflatternden Fetzen der anti-
ken Ueberlieferung“ spricht, statuiert er hier, daß diese Überlieferung „mit
voller Entschiedenheit“ den Ursprung der Tragödie aus dem Chor erkennen
lasse. Folgende Zeugnisse sind zu nennen:
1. Die bekannte Stelle in der Poetik des Aristoteles lautet (1449a): „Sie [die
Tragödie] hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden - sie selbst und
die Komödie: sie selbst von Seiten derer, die den Dithyrambos, die Komödie
von Seiten derer, welche die Phallos-Umzüge, wie sie jetzt noch in vielen Städ-
ten im Schwange sind, anführten; sie nahm dann in kleinen Schritten zu,
indem man vorantrieb, was bei ihr zum Vorschein kam, und nachdem sie viele
Wandlungen erfahren hatte, hörte ihre Entwicklung auf, sobald sie ihre eigent-
liche Natur verwirklicht hatte“: yEvopEvpq ö’ ovv an’ äpxpq avToaxEÖiaoTiKfiq -
Kai avTp Kai p Ktüpqjöia, Kai p pcv and tcüv E^apxövTCüv tov öiövpapßov, p öd
and tcüv na cpaAAiKa a etl Kai vüv ev noAAaiq tcüv nöAscüv öiapsvsi vopi^ö-
peva - Kara pucpöv rp^pOri npoayövTCüv öaov syiyvsTO cpavspdv avTpc;- Kai
noAAdq psTaßoAdq psTaßaAovaa p Tpaycüöia snavaaTO, snsi saxs ti\v avTpq
cpvaiv.
Aristoteles sagt nicht, daß die Tragödie aus dem Dithyrambos, also aus
dem Chorgesang zu Ehren des Dionysos hervorgegangen sei, sondern nur, daß
sie zunächst aus Improvisationen von Seiten der „Anführer“ (s^apxövTCüv) des
Dithyrambos bestand, die man sich als Vorsänger vorzustellen hat. Demnach
sind diese Improvisationen nicht mit dem Chorgesang gleichzusetzen, sondern
eher als kurze ,Nummern4 zu verstehen, die hinzukamen und zwar nicht mit
dem gesamten Chor, sondern als Improvisationen dieser „Anführer“. In diesem
vielberufenen Zeugnis des Aristoteles zeichnet sich der Ursprung der Tragödie
nicht als ein chorischer, sondern als ein solistischer ab, der aber in engem
Zusammenhang mit den chorischen Darbietungen stand. Damit stimmt über-
ein, daß die antike Überlieferung als „Erfinder“ der Tragödie Thespis nennt,
 
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