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174 Die Geburt der Tragödie

(1964); Bd. V/VI: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur I/II (1966/
67), V, S. 64, S. 65, S. 64).
52, 20 f. für manchen Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke] Eine
noch polemischere Textvariante lautet: „liberalistisch-erhebende Gedanke“
(KSA 14, 48). Hier wie im Folgenden zeigt sich nicht nur die schon für den
jungen N. charakteristische und sich später verschärfende antiliberale und
antidemokratische Einstellung, sondern auch eine unpolitische und „unzeitge-
mäße“ Haltung (vgl. auch den Kommentar zu 52, 27-29), die noch Thomas
Mann unter dem Eindruck von N.s Unzeitgemäßen Betrachtungen in seine
Betrachtungen eines Unpolitischen übernahm. „Die Kunst hat die Aufgabe, den
Staat zu vernichten“, lautet ein Notat aus der Zeit zwischen Winter 1869/70
und Frühjahr 1870 (NL 1869/1870, KSA 7, 3[11], 62, 18), mit dem N. an Wagners
Parole in dessen noch revolutionärer Schrift Oper und Drama (1851) anschließt:
„den Staat vernichten“ (GSD IV, 67). Zuvor, so in seiner Tragödienvorlesung
und in anderen Aufzeichnungen, hatte N. noch durchaus die politische Dimen-
sion der Tragödie wahrgenommen. Auch die zur gleichen Zeit wie die Tragö-
dienschrift und in enger Verbindung mit ihr entstandene dritte der Fünf Vorre-
den zu fünf ungeschriebenen Büchern: Der griechische Staat (KSA 1, 764-777)
ist markant politisch. Sie verherrlicht den Staat und gebärdet sich sogar staats-
tragend, indem sie nicht bloß für die „Staateninstinkte“ (772, 27), sondern
sogar für die „monarchischen Instinkte“ (773, 27) plädiert. N. sucht dies mit
einem Hinweis auf „die Natur mit ihrem Staatsinstinkte“ (773, 5) zu begründen,
welcher der „Vaterlands- und Fürstenliebe einen ethischen Schwung“ verleihe
(774, 13 f.). Diese befördere besonders den „Krieg“ und den „Soldatenstand“
als die wesentlichen Kernbereiche des Staatswesens, in denen sich das
„Urbild des Staates“ verwirkliche (775, 5). Gegen die auch in GT verab-
scheute „Masse“ empfiehlt N. konsequenterweise als „allgemeinste Wirkung
der Kriegstendenz“, die er bejaht, „eine sofortige Scheidung und Zertheilung
der chaotischen Masse in militärische Kasten, aus denen sich pyrami-
denförmig, auf einer allerbreitesten sklavenartigen untersten Schicht, der Bau
der ,kriegerischen Gesellschaft4 erhebt“ (775, 6-10). „So sei es denn ausgespro-
chen“, schreibt N., „daß der Krieg für den Staat eine ebensolche Nothwendig-
keit ist, wie der Sklave für die Gesellschaft“ (774, 29-31).
Da N. in GT, anschließend an Wagners Frühphase mit ihrer noch sozialre-
volutionär und anarchistisch inspirierten Ablehnung des Staates, gleichzeitig
diese radikale Gegenposition vertritt, stellt sich die Frage, ob er in der schon
in der Vorrede an Wagner adressierten Tragödienschrift lediglich ein beflisse-
nes Echo auf dessen frühes anarchistisches Plädoyer für die Vernichtung des
Staates geben wollte - ein Echo, das seiner eigenen Einstellung keineswegs
entsprach. Allerdings hatte Wagner, der als Revolutionär fliehen mußte, um
 
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