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Stellenkommentar GT 7, KSA 1, S. 52 175

der Verhaftung zu entgehen, nach seiner Rückkehr aus dem Exil und aufgrund
der dann alsbald folgenden Förderung durch den bayerischen König Ludwig II.
auch schon seine monarchischen Instinkte entdeckt. Und kaum hatte Preußen
im deutsch-französischen Krieg gesiegt, begeisterte er sich staatstragend-
monarchistisch, indem er für den soeben in Versailles zum deutschen Kaiser
proklamierten preußischen König einen Kaisermarsch komponierte (vgl. hierzu
den Reflex in UBIV: Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, 504, 24-32). Er erhoffte
sich davon die Gunst des neuen Kaisers und die Erhebung des Kaisermarschs
zur Nationalhymne des neubegründeten deutschen Kaiserreichs.
Vor dem Hintergrund dieser Wandlungen schenkte N. zu Weihnachten 1872
Cosima Wagner ein in Leder gebundenes Heft, welches die Fünf Vorreden zu
fünf ungeschriebenen Büchern enthielt. Nicht zuletzt die entschieden antisemi-
tischen Partien der in diesem Konvolut enthaltenen Schrift Der griechische
Staat konnten die überzeugte Zustimmung Richard und Cosima Wagners fin-
den. In allen ihren Tendenzen, sowohl in den staatlichen wie in den antisemiti-
schen, entsprach N.s Schrift denjenigen des preußischen Historikers und
Staatsideologen Heinrich von Treitschke.
52, 27-29 da von jenen rein religiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz von
Volk und Fürst, überhaupt jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist]
Diese These setzt sich über die Tatsache hinweg, daß in der griechischen Polis
die religiöse und die politisch-soziale Sphäre eng miteinander verbunden
waren. Kulte wie der Dionysoskult waren immer Bestandteil des sozialen
Lebens. Die „rein religiösen Ursprünge“ sind eine Fiktion N.s; und die Tragö-
dien-Aufführungen waren eine öffentliche, staatlich organisierte Fest-Veran-
staltung der Polis, der „Stadt“ - sie gehörten zu den „Städtischen Dionysien“,
einem der größten Feste Athens. Die gleiche Tendenz wie an dieser Stelle zeich-
net sich in den wenig später folgenden Ausführungen zum Dithyrambos ab:
„der dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bür-
gerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig vergessen ist: sie sind die
zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes
geworden“ (61, 24-28). N.s Bestreben war es, die Sphäre einer verabsolutierten
,reinen4 Kunst strikt gegen die politisch-soziale Sphäre abzugrenzen und sie
sogar als deren Negation darzustellen. Damit stimmte er einem Grundzug der
Kunstbetrachtung Jacob Burckhardts zu, der den politischen und sozialen Ent-
wicklungen der Moderne wie auch schon der griechischen Polis einen einen-
genden Charakter zuschrieb und sich möglichst frei von allem Staatlichen hal-
ten wollte. Er bekannte sich zur „Apolitie“. Für N. ist die - in Gestalt der
Ursprungshaften Tragödie - absolutgesetzte Kunst, wenn auch nur als Reser-
vat, von entsprechender Bedeutung. In der Götzen-Dämmerung heißt es später
viel allgemeiner: „Die Cultur und der Staat - man betrüge sich hierüber nicht -
 
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