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176 Die Geburt der Tragödie

sind Antagonisten: ,Cultur-Staat‘ ist bloss eine moderne Idee [...] was gross ist
im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch“ (KSA 6, 106, 12-
17).
Noch in den Aufzeichnungen zu seiner Tragödienvorlesung vom Sommer-
semester 1870 hatte N. eine ganz andere Sicht als in GT: „Dichter u. Darsteller
gehörten zu den edelsten Familien, die ganze Aufführung war der Stolz einer
Phyle, der Staat feierte ein großes Fest, alle Standesunterschiede waren aufge-
hoben, die gebildeten Frauen (die Hetären) waren auch zugegen: das Ganze
im Einklang mit der Volksreligion, mit dem Priesterthum. Kein Gewinn an Geld
war zu erhoffen. Die Aktion durchaus [d. h. in der alten Wortbedeutung: ganz]
im Freien, Spielzeit am hellen Tage“ (KGW II 3, 19).
52, 29-53, 4 aber wir möchten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classi-
sche Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für Blasphemie erachten, hier
von der Ahnung einer „constitutionellen Volksvertretung“ zu reden, vor welcher
Blasphemie Andere nicht zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksver-
tretung kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie hof-
fentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal „geahnt“.] Die Polemik richtet sich
gegen J[ulius] L[eopold] Klein: Geschichte des Dramas, Bd. 1, Leipzig 1865,
S. 162: „Die antiken Staatsverfassungen kannten, zu ihrem Unglück und
schliesslichen Untergange, die Volksvertretung nicht; das griechische Drama
aber ahnte sie wohl und stellte sie, wenn auch nicht mit geschichtsphilosophi-
schem Bewußtseyn, so doch kunstbewusst oder kunstinstinctiv, im Chor als
dramatischen Factor und Gesetzeshüter auf“. Auf S. 161 schreibt Klein: „Im
Chor, erwähnten wir bereits, hat auch Aristoteles den Volksvertreter erkannt
[Problemata XIX, 49]. Das ist etwas Anderes, als A. W. Schlegel’s ,idealisirter
Zuschauer4, zu dem er den tragischen Chor verschöngeistigen wollte, um ihn
salonfähig zu machen [...] Der Chor stellt das öffentliche Gewissen dar, und
sein Gesang ist eigentliche vox populi vox Dei; die ermahnende Volksstimme“.
N. entlieh das Werk - allerdings nicht den ersten Band über das griechische
Drama - im April 1871 aus der Universitätsbibliothek Basel.
53, 5-8 Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors ist der Gedanke
A. W. Schlegel’s, der uns den Chor gewissermaassen als den Inbegriff und Extract
der Zuschauermenge, als den „idealischen Zuschauer“ zu betrachten anemp-
fiehlt.] Verkürzte und nicht ganz zutreffende Wiedergabe der im Kommentar zu
52, 17-26 zitierten Ausführungen A. W. Schlegels.
53, 29-31 Und das sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein,
gleich den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und real zu halten?]
Im Gefesselten Prometheus des Aischylos tritt ein Chor von Okeaniden (Meeres-
nymphen) auf. Sie nehmen mitfühlend und warnend am Schicksal des Prome-
 
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