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Stellenkommentar GT 7, KSA 1, S. 56-57 183

ist, hat an sich weder mit dem Tragischen noch dem Komischen etwas zu thun. Aus
dem dionysischen Chore hat sich das Tragische und das Komische entwickelt, d. h. zwei
eigenthümliche Formen der Weltbetrachtung, die {die) begriffliche Consequenz jener
zunächst unaussprechbaren und ausdruckslosen dionysischen Erfahrungen enthalten.
Die Verzückung (KSA 14, 48).
N. verwendet das hervorgehobene Wort „lethargisch“ im alten etymologischen
Sinne: Lethe ist in der griechischen Mythologie der Fluß der Unterwelt, den
die Toten überqueren und dabei ihr ganzes früheres Dasein vergessen. N.
spricht von der „Kluft der Vergessenheit“. In der griechischen Literatur ist die
„Vergessenheit der (Alltags-)Mühen“ ein Topos, und dies gerade auch im Hin-
blick auf die Wirkung des Dionysos und seiner Gabe, des Weins, etwa in den
Bakchen des Euripides, V. 278-283. „Vergessenheit“ ist nicht Eigenschaft wie
Vergeßlichkeit, auch nicht das gewöhnliche Vergessen des Vergangenen (wie
im Lethe-Mythos), sondern ein Zustand, in dem die dionysisch Erregten ein
rauschhaft gesteigertes Dasein empfinden und dabei die Normal-Wirklichkeit
hinter sich lassen. Von den N. bekannten Dichtern verwendet Hölderlin immer
wieder diesen Begriff der „Vergessenheit“. In der Elegie Brot und Wein, die
ursprünglich den Titel Der Weingott trug und ganz vom Dionysosmythos
bestimmt ist, heißt es von der nächtlich-dionysischen Inspiration, sie werde
„Uns die Vergessenheit und das Heiligtrunkene gönnen“ (V. 33).
57, 4-12 Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das
Umschleiertsein durch die Illusion - das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile
Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem
Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren,
nein! - die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit über-
wiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem
dionysischen Menschen.] Mit seiner These, daß die Erkenntnis, und zwar die
mehrfach betonte Erkenntnis der „Wahrheit“, das Handeln tötet und damit
Hamlets Schicksal bestimmt, deutet N. dieses Schicksal in Schopenhauers
Sinn. Für Schopenhauer ist die „Wahrheit“ das „Nichts“ (Die Welt als Wille
und Vorstellung I, letzter Abschnitt, Frauenstädt, Bd. 2, S. 487); die Einsicht in
dieses Nichts hebt den „Willen zum Leben“ und demnach, wie N. im Hinblick
auf Hamlet folgert, auch den Willen zum Handeln auf. Schopenhauer hatte im
Hinblick auf die „Wahrheit“ des „Nichts“ auch konstatiert: „nur die Erkenntniß
ist geblieben, der Wille ist verschwunden“. Indem N. die Erkenntnis einer
objektiven „Wahrheit“ betont, wendet er sich gegen das verbreitete Hamlet-
Verständnis, demzufolge Hamlets Tragödie aus einer subjektiven, psychischen
Verfassung resultiert, welche seine Tatkraft lähmt. Allerdings trifft N.s Aussage
über jene „wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer“ nicht irgendeinen ober-
flächlichen Interpreten, sondern Shakespeares Hamlet-Rolle selbst. Shake-
 
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