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Stellenkommentar GT 8, KSA 1, S. 57-58 185

sehen“ (58, 2) - Rousseaus „homme sauvage“ - und dem „Bildungsmenschen“
(60, 9 f.), der im Theater sitzt. Die darauf folgenden Darlegungen zielen auf die
Möglichkeit, die Kluft zu überbrücken. Hierzu dienen die Vorstellungen der
„Verwandlung“ und der „Verzauberung“. Insofern sich der Dichter zuerst
selbst dionysisch verwandelt und die „dionysische Erregung“ sich auf die
„ganze Masse“ (61, 7) des Chores überträgt, um diese zu „verwandeln“ und
zu „verzaubern“, entsteht ein Modell von allgemeinerer Bedeutung, das sich
allerdings nur indirekt - „symbolisch“ - erschließen läßt (62, 20f.: „Der Chor
der griechischen Tragödie, das Symbol der gesammten dionysisch erregten
Masse“). Der Kernsatz lautet: „der dithyrambische Chor ist ein Chor von Ver-
wandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völ-
lig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphären
lebenden Diener ihres Gottes geworden“ (61, 24-28). Daß diese „Diener“ nicht
nur in einen außergesellschaftlichen, sondern auch in einen unbewußten
Zustand geraten sollen, behauptet N. anschließend, wenn es heißt, daß „im
Dithyramb eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die
sich selbst unter einander als verwandelt ansehen“ (61, 30-32). Als in einen
außergesellschaftlichen und unbewußten Zustand Verwandelte erfahren sie
sich als reine Naturwesen: als Satyrn, und als Satyrn wiederum werden sie in
mystischer „Schau“ mit Dionysos, der mythisierten Natur selbst, eins (61, 34-
62, 2). Wie sich die dionysische Erregung auf den Chor und dessen „Vision“ des
Dionysos übertragen hat, so soll der Chor auch seinerseits diese dionysische
Erregung weiter übertragen auf das Publikum: „Jetzt bekommt der dithyrambi-
sche Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch
anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne erscheint, nicht
etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus
ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt“ (63, 25-30). Eine nachgelas-
sene Notiz aus der Entstehungszeit der Tragödienschrift lautet: „Dionysus als
Weltverwandlung. / Apollo der ewige Gott des Weltbestandes“ (NL 1870/1871/
1872, KSA 7, 8[46], 240, 15 f.). In den weitgehend spekulativ psychologisieren-
den Duktus seiner Ausführungen schaltet N. die schon in den früheren Kapi-
teln entwickelte Theorie ein, daß aus der dionysisch-musikalischen Sphäre des
Chores, die er als die primäre versteht, wie aus einem „Mutterschooss“ (62, 9)
der Dialog und die gesamte Bühnenwelt als Manifestationen des Apollinischen
hervorgehen.
57, 31-58, 1 Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind
Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehn-
sucht] N. nimmt hier Grundgedanken aus Schillers Abhandlung Über naive
und sentimentalische Dichtung auf. Schiller zufolge erweist sich der moderne
Kulturmensch gerade in seiner Sehnsucht nach einem ursprünglichen Naturzu-
 
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