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186 Die Geburt der Tragödie

stand, nach dem „Naiven“, als sentimentalisch. In einem der nachgelassenen
Notate aus dieser Zeit (1871) bezieht sich N. explizit und ausführlich auf Schil-
lers Abhandlung und ihre zentralen Kategorien. Wesentlich allerdings setzt er
sich von Schillers Konzept mit seinem Begriff der „Natur“ ab: Während Schiller
den sentimentalisch imaginierten Naturzustand als regulative Idee versteht,
die nicht der Regression dienen, sondern progressiv zur Erreichung des Ideals
helfen soll, preist N. die elementare Vitalität, wie sie der griechische Satyr „als
Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur“ (58, 13) repräsentiere, als
ein Ziel der tragischen Kunst.
58, 5-8 Die Natur, an der noch keine Erkenntniss gearbeitet, in der die Riegel
der Cultur noch unerbrochen sind - das sah der Grieche in seinem Satyr, der
ihm deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel.] Anspielung auf Darwins
Evolutionstheorie, die N. spätestens seit 1868 durch Friedrich Albert Langes
Geschichte des Materialismus (1866) kannte. Am 16. Februar 1868 empfiehlt N.
Langes Werk dem Freund Gersdorff: „über die materialistische Bewegung uns-
rer Tage, über die Naturwissenschaften mit ihren Darwinschen Theorien, [...]
weiß ich Dir immer nichts Ausgezeichneteres zu empfehlen“ (KSB 2, Nr. 562,
S. 257, Z. 7-12).
58, 8-15 es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner höchsten und
stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer, den die Nähe des Gottes ent-
zückt, als mitleidender Genosse, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt,
als Weisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der
geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchti-
gem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches] Die
griechischen Satyr-Darstellungen - diejenigen auf den griechischen Vasen sind
oft besonders drastisch, weil sie die Satyrn mit erigiertem Phallos präsentie-
ren - lassen den Satyr keineswegs als „begeisterten Schwärmer“ erkennen,
den „die Nähe des Gottes [Dionysos] entzückt“, sowenig wie als „mitleidenden
Genossen, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt“ (es handelt sich hier
um einen Reflex der schwer zu deutenden Aussage bei Herodot V 67, wo aber
nur von „tragischen Chören“ die Rede ist, nicht von Satyr-Chören). Zwar gehö-
ren die Satyrn zum Gefolge des Dionysos, wie die Mänaden, aber sie erschei-
nen eingeschränkt auf eine burlesk übertriebene Sexualität und auf ein
koboldartiges munteres Treiben. Dem widerspricht N.s Behauptung, die Grie-
chen hätten die geschlechtliche Allgewalt der Natur „mit ehrfürchtigem Stau-
nen“ betrachtet. Die auf die Tragödien-Aufführungen in Athen regelmäßig fol-
genden Satyrspiele dienten der Entspannung und Aufheiterung nach der
tragischen Erschütterung. In Karl Otfried Müllers Geschichte der griechischen
Literatur (Bd. 2, S. 38 f.) konnte N. lesen, daß die Satyrspiele sich erst im Laufe
 
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