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188 Die Geburt der Tragödie

standen wissen, obwohl nur die Sage existiert, König Midas sei durch den Silen
über die Nichtigkeit des menschlichen Daseins belehrt worden (vgl. NK 35,10-
24).
58, 33-59, 7 Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als
einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewi-
gen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesammten Erscheinungswelt:
und wie die Tragödie mit ihrem metaphysischen Tröste auf das ewige Leben
jenes Daseinskernes, bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hin-
weist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes
Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus.] Schopenhauer hatte
in der Welt als Wille und Vorstellung Kants „Ding an sich“, das sich hinter
der Welt der Erscheinungen verbirgt, für das von ihm entworfene Verhältnis
zwischen dem „Willen“ als der wahren, wesentlichen Natur des Daseins und
der Scheinwelt der „Vorstellung“ herangezogen. Dem entsprechend deutet N.
hier das Geschehen der Tragödie als einen „fortwährenden Untergang der
Erscheinungen“, weil die tragischen Helden untergehen und in ihrem Unter-
gang, d. h. in der Vernichtung des bloß scheinhaften und transitorischen prin-
cipium individuationis, das sie verkörpern, auf den „ewigen Kern der Dinge“
verweisen. Die Tragödie bietet demnach insofern „metaphysischen Trost“, als
sie gerade durch den tragischen Untergang der Helden, der ein physischer
Untergang ist, das ewig bleibende „metaphysische“ Sein zur Geltung bringe.
Vgl. NK 72, 34-73, 7 und NK 108, 17-22. Wie auch sonst arbeitet N. mit analogi-
sierenden Strategien: „ein ähnlicher wie“ (59, 1), „in einem Gleichniss“ (59, 6).
59, 1-11 Culturlüge [...] er sieht sich zum Satyr verzaubert.] In der Vorstufe
heißt es: „Kulturlüge löst sich ebenso im befreienden Ausdruck des Gelächters
wie im Schaudern des Erhabenen aus der Seele des dionysischen Menschen.
Er will die Wahrheit und damit will er die Natur in ihrer höchsten Kraft, als
Kunst: während der Bildungsmensch den Naturalismus will d. h. ein Conterfei
der ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen“ (KSA 14, 49).
59, 12-15 Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwär-
mende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbst vor ihren eignen Augen
verwandelt, so dass sie sich als wiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn, zu
erblicken wähnen.] Die Vorstellung der Verwandlung, eine Leitvorstellung der
folgenden Ausführungen (vgl. den Überblickskommentar zu GT 8), fand N. in
Karl Otfried Müllers Geschichte der griechischen Literatur. Darin heißt es (Bd. 2,
Kap. 21, S. 28 und S. 31): „Es ist das Verlangen aus sich herauszugehen, sich
selbst fremd zu werden“. Das „innre Verlangen mit dem Gotte selbst in Gemein-
schaft zu kämpfen, zu leiden und zu siegen“ habe ursprünglich alle Dionysos-
diener erfüllt. Das „Kostüm von Satyrn“ habe als „bequeme Vorstufe“ gedient,
 
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