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194 Die Geburt der Tragödie

des integralen Textes, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Heinrich
Meier. (UTB 725) Paderborn u. a. 1984, 5. Aufl. 2001, S. 144 f., S. 148 f.). N. setzt
sich später in einer ganzen Sequenz der Morgenröthe mit der Mitleids-Moral
und insbesondere mit Schopenhauers Begründung der Moral aus dem Mitleid
auseinander (M 131-146, KSA 3, 122-138). An der hier zu erörternden Stelle
kommt es nicht auf die moralische Qualität des Mitleids an, sondern darauf,
daß der Chor sich mit seinem Mitleid insofern „weise“ zeigt, als dieses von der
Urgegebenheit des Leidens zeugt und der Chor damit aus dem „Herzen der
Welt“ die „Wahrheit“ zu verkünden vermag - die Wahrheit, daß alles Dasein
im Grunde Leiden ist. Im gleichen Sinne wird der Chor zum „dionysischen
Ausdruck der Natur“ erklärt: Da Dionysos der leidende Gott und als solcher
der mythologische Repräsentant der ganz vom Leiden bestimmten „Natur“ ist,
kann der Chor als identifikatorisch und geradezu mystisch mitleidender der
„höchste, nämlich dionysische“ Ausdruck der Natur genannt werden. Der
Begriff der „Begeisterung“, den N. in diesem Zusammenhang verwendet, erhält
daher keine positive Valenz.
Einen Anknüpfungspunkt für diese Projektion von Schopenhauers Lei-
densphilosophie auf den Ursprung der griechischen Tragödie konnte N. in der
von ihm intensiv herangezogenen Geschichte der griechischen Literatur von
Karl Otfried Müller finden. Darin heißt es (Bd. 2, S. 29 f.): „Der Dithyramb, aus
welchem die Tragödie erwuchs, drehte sich um die Leiden des Dionysos,
wie die merkwürdige Nachricht des Herodot deutlich merken läßt“. Die Hero-
dot-Stelle, auf die sich Müller beruft, ist allerdings nicht sicher zu deuten.
Herodot berichtet, wie schon erwähnt, von einer Kultreform des Kleisthenes,
die von der Verehrung des Adrastos, eines Kultheros der Stadt Sikyon ausging,
mit folgenden Worten (V 67, 5): „Neben anderen Ehrungen für Adrastos feierten
die Sikyonier auch seine Leiden (nötöq) mit tragischen Chören; sie verehrten
nicht den Dionysos, sondern den Adrastos. Kleisthenes jedoch gab die Chöre
dem Dionysos, das übrige Opfer aber dem Melanippos“ (röt te öq otAAot oi
ZiKvtüvioi ETiptüv töv Äöpqorov Koti öq npöq toi nötösa oivtov TpayiKOioi xopoim
syspaipov, töv psv Aiövvaov ov TiptüVTsq, tov öe ’ÄöpqaTOV. KAsiaOsvqq ös
Xopovq psv Ttp Aiovvaqj änsötüKS, Tqv ös aAAqv Ovaiqv MsAavinnqj). Karl
Otfried Müller nahm sein Verständnis dieser Herodot-Stelle zum Anlaß, um die
Tragödie mit den Mysterien zu verbinden. Die Urform der Tragödie, so seine
Hypothese, habe aus der mimetischen Darstellung der Leiden des Dionysos
bestanden. Als Mysterien seien sie analog zu den in einem anderen Kontext
bezeugten Dionysos-Mysterien und zu den mit ihnen in Eleusis verbundenen
Demeter-Mysterien aufzufassen. N. notierte schon im Herbst 1869 im Hinblick
auf die Herodot-Stelle: „Wichtig, daß in Sikyon dem Adrast Lieder gesungen
werden, die erst offiziell auf Dionysus übertragen werden. Dies waren doch
 
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