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198 Die Geburt der Tragödie

sogar einen entsprechenden Titelentwurf, so „Die Tragödie und die
griechische Heiterkeit.“ (NL 1870/1871, KSA 7, 5[12O], 126,19) und „Grie-
chische Heiterkeit.“ (NL 1870, KSA 7, 6[18], 136, 25). Den Ausführungen zufolge,
die dem hier zu erörternden Passus vorausgehen, interpretiert N. diese Heiter-
keit im Sinne seiner Konstellation Dionysisch-Apollinisch, die er weitgehend
auf Schopenhauers Konstellation „Wille“ und „Vorstellung“ hin transparent
macht. Dementsprechend versteht er die griechische „Heiterkeit“ als apolli-
nisch lichtes (Schein-)Reich der „Vorstellung“. Sie erhebt sich über dem dunk-
len Daseinsgrund des vom Schrecklichen und vor allem vom Leid bestimmten
„Willens“, den N. immer wieder dem Dionysischen zuordnet. Eine entspre-
chende Allegorese der Sophokleischen Ödipusdramen unternimmt N. im
nächsten Abschnitt (65, 24-67,19): Am König Ödipus führe Sophokles eine Welt
des „Elends“ (65, 26) und „ungeheuren Leidens“ (65, 27) vor; am Ödipus auf
Kolonos hebt N. hervor, daß Ödipus „rein als L e i d e n d e r “ dem „Uebermaasse
des Elends“ (66, 10 f.) preisgegeben sei, um sich dann aber in einer Sphäre
„überirdischer Heiterkeit“ (66, 12) zu verklären. Mit dieser pessimistisch grun-
dierten Auffassung der griechischen „Heiterkeit“ setzt sich N. deutlich gegen
das von Winckelmann initiierte klassizistisch-harmonische Verständnis der
Griechen, besonders aber gegen den Zivilisationsoptimismus seiner Zeit ab
(65, 20-23: „während wir allerdings den falsch verstandenen Begriff dieser
Heiterkeit im Zustande ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen
der Gegenwart antreffen“).
65, 24-29 Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige
Oedipus , ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum
Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende
durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt,
die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist] Zuerst meint N. den König
Ödipus des Sophokles, dann das Spätwerk Ödipus auf Kolonos. In dem früheren
Drama wird Ödipus schicksalhaft in die Katastrophe getrieben, trotz seiner
Weisheit, mit der er das Rätsel der Sphinx zu lösen und damit deren unheil-
volle Macht über die Stadt zu brechen vermag. Die „magische segensreiche
Kraft“ und der „höhere magische Kreis von Wirkungen“ deuten auf die wun-
derbare Heilskraft, die dann von dem alten Ödipus und seiner letzten Ruhe-
stätte im heiligen Hain von Kolonos ausgeht. Er, der im Leben vom Unheil
Verfolgte, geht nun in eine Sphäre verklärenden Heils ein. Zur kultischen Funk-
tion vgl. NK 114, 12-16.
66, 4 f. die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung] Das Wort
„dialektisch“ verwendet N. hier nicht im philosophischen Sinn, sondern gemäß
dem griechischen Wortsinn von „öiaÄEyEoOai“: dialogisch mit Für- und Wider-
rede streiten.
 
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