Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
200 Die Geburt der Tragödie

N. das Thema einer „dionysischen Weisheit“ erneut auf, um es so zu definieren
(NL 1884, KSA 11, 26[243], 214, 10-16): „(Dionysische Weisheit) Die höchste
Kraft, alles Unvollkommene, Leidende als nothwendig (ewig-wiederho-
lenswerth) zu fühlen aus einem Überdrange der schöpferischen Kraft,
welche immer wieder zerbrechen muß und die übermüthigsten schwersten
Wege wählt“.
67, 14-16 „Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist
ein Verbrechen an der Natur“: solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu]
N. setzt hier enthistorisierend die Tragödie König Ödipus mit dem „Mythus“
gleich, den er romantisch als eine vor und über allem Historischen stehende
Wahrheitsinstanz versteht. Sophokles aber, der für seine Frömmigkeit bekannt
und sogar Priester war, schrieb ein historisch aktuelles Stück. Er wollte die
aufklärerische Sophistik, welche die religiösen Autoritäten untergrub, paradig-
matisch zurückweisen, indem er auf den Zentralbegriff der Sophistik zielte,
auf „sophia“, die „Weisheit“, von der die Sophistik ihren Namen hat. Das
Scheitern des „weisen“, auf sein autonomes Wissen stolzen Ödipus, sollte die
vom Seher Teiresias repräsentierte religiöse Autorität und das aus ihr hergelei-
tete heteronome Wissen restituieren. Dem menschlichen Wissen des Ödipus
steht das göttlich legitimierte und durch das Geschehen als einzig wahr erwie-
sene Wissen des Sehers Teiresias gegenüber. Dafür, daß Weisheit, wie N. im
Hinblick auf den König Ödipus schreibt, als ein „Verbrechen an der Natur“
erscheint, gibt es bei Sophokles keinen sicheren Anhaltspunkt, es sei denn
man setzt allegorisierend die „Natur“ der - todbringenden! - Sphinx gleich,
die Ödipus durch die Lösung des von ihr gestellten Rätsels besiegt, woraufhin
sie sich in den Abgrund stürzt. Diese Deutung favorisiert N., indem er
annimmt, daß Ödipus „durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Ver-
nichtung stürzt“ (67, 12 f.). Das Spekulative dieser Deutung markiert er selbst
mit den Worten: „der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen“ (67, 9f.). Die
Allegorisierung ist von seinem Darstellungsinteresse bestimmt: von der im
13. Kapitel kulminierenden Ablehnung der „Aufklärung“ (88, 18 f.) und des
Sokratischen Wissens - nicht zur Verteidigung von Religion wie bei Sophokles,
sondern von „Instinct“ und „Natur“.
67,16-18 der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl die erha-
bene und furchtbare Memnonssäule des Mythus] Mit dieser metaphorischen
Wendung hebt N. seine eigene Deutung des Mythos emphatisch hervor, indem
er sie dem Sophokles zuschreibt. Er gibt damit ein Echo auf Wagner, der das
Verhältnis von Mythos und dichterischer Deutung in seiner Schrift Oper und
Drama dargestellt hatte. Vgl. hierzu genauer den Überblickskommentar zu GT
23-25, S. 389-392. Von den beiden 20 m hohen Sitzfiguren des ägyptischen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften