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202 Die Geburt der Tragödie

aber allgemein erzählt, zog viele Reisende dorthin, und unter den 72 Namen,
die an der Säule verzeichnet sind, findet sich auch der des Kaisers Hadrian
und seiner Gemahlin Sabina [...] Das ganze Phänomen verschwand aber, seit-
dem der Kaiser Septimius Severus [bei seinem Besuch 199/200 n. Chr.] die
schwer beschädigte Säule hat wieder herstellen lassen: er sah sich also in
seiner Hoffnung, in ihr ein förmliches Orakel zu erhalten, völlig getäuscht“.
67, 21-71, 14 Prometheus ] Wie schon in der allegorischen Deutung des
Sophokleischen Ödipus ist auch in derjenigen des Aischyleischen Prometheus
das „Leid“ ein Grundmotiv, das wiederum auf Schopenhauers Leidensphiloso-
phie weist; ebenfalls analog zur Deutung der Ödipus-Gestalt zeichnet sich Pro-
metheus als Kulturbringer durch seine „Weisheit“ aus, die er „durch ewiges
Leiden zu büssen gezwungen war“ (68, 24 f.). Und wie Ödipus, indem er das
Rätsel der Sphinx löst, in N.s Interpretation „ein Verbrechen an der Natur“
(67,15) begeht, erscheint der Feuer-Raub des Prometheus, der Beginn der „Cul-
tur“ (69, 11; 69, 18), als „ein Raub an der göttlichen Natur“ (69, 14 f.). Abschlie-
ßend ordnet N. das Drama des Aischylos wie schon das Ödipus-Drama des
Sophokles in das von ihm der Tragödie überhaupt zugeschriebene „Doppelwe-
sen“ (71, 9) des Apollinischen und Dionysischen ein.
Schon als Vierzehnjähriger, im Frühjahr 1859, notierte N. Skizzen zu einer
Prometheus-Dichtung (NL 1859, KGW 12, 6[2—7], 36-51). Am Basler Pädagogium
bezog er im Sommersemester 1869 den Prometheus in seinen Überblick über
die Entwicklung des griechischen Dramas ein, im Sommersemester 1871 in einen
gattungsgeschichtlichen Überblick über die Hauptformen der Poesie.
67, 22-25 Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte [...] das hat uns
der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthül-
len gewusst] Die nachfolgenden Verse bilden den abschließenden Höhepunkt
von Goethes Sturm und Drang-Hymne Prometheus (V. 51-57), die, wie N. sagt,
„der eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit ist“ (68, 3 f.), aber den „aeschylei-
sche[n] Zug nach Gerechtigkeit“ (68, 5) zur Geltung bringt, indem sie diese
im Sinne von Ausgewogenheit4 zu verstehende „Gerechtigkeit“ darin sieht,
daß Jupiter und Prometheus gleichermaßen dem „ewigen Schicksal“ (der
aischyleischen Moira) und der „allmächtigen Zeit“ unterworfen sind (V. 44-
46).
68, 7 Ahnung einer Götterdämmerung] Anspielung auf den Weltuntergang in
der germanischen Mythologie, der auch zum Tod der Götter führt, und insbe-
sondere auf den letzten Teil von Wagners Ring des Nibelungen, der diesen
Mythos aufgreift.
68,11 f. die Moira als ewige Gerechtigkeit] Moira ist das Schicksal, das Aischy-
los als versöhnenden Ausgleich von Gegensätzen, als eine über allem waltende
 
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