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204 Die Geburt der Tragödie

wieder auflebt, nachdem Zeus sein unversehrt gebliebenes Herz verschluckt
hat“ (KGW II 4, 222). Vgl. auch NK 72, 11-20.
68, 25-27 Das herrliche „Können“ des grossen Genius, das selbst mit ewigem
Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers - das ist Inhalt und
Seele der aeschyleischen Dichtung] Diese Überzeichnung ist wesentlich von der
Sturm und Drang-Dichtung des jungen Goethe und seinem Genie-Kult
bestimmt. Goethes Prometheus-Hymne hat ihr Zentrum in der selbstbewußten
Absage des von der Gewißheit eigener Schöpferkraft erfüllten großen Individu-
ums an die traditionelle Vorstellung von einem jenseitigen Schöpfer-Gott, von
dem die Menschen sich abhängig glaubten. Dies und die für die Sturm und
Drang-Zeit charakteristische Berufung auf das Gefühl, das „Herz“, drückt Goe-
the in den zentralen Versen aus: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet, / Heilig
glühend Herz?“ (V. 33 f.). Diese gefühlshaft aufgeladene Subjektivität und das
entsprechende Selbstverständnis als „Künstler“ ist im Gegensatz zu N.s Dar-
stellung dem Prometheus des Aischylos fremd. Die Übereinstimmung Goethes
mit Aischylos beschränkt sich auf drei Aspekte. Erstens ist Prometheus für
beide ein Kulturbringer, wie sich insbesondere darin zeigt, daß Prometheus
den Menschen das Feuer bringt - Goethe spielt darauf an, indem er die Gott-
heit provokativ zurückweist: „Mußt mir meine Erde / Doch lassen stehn, / [...] /
Und meinen Herd, / Um dessen Glut / Du mich beneidest“ (V. 6-12). Die zweite
Übereinstimmung besteht darin, daß Goethe den Aspekt der Philanthropie von
Aischylos übernimmt, der seinen Prometheus ausdrücklich als „Philanthro-
pos“ bezeichnet. Goethes (zugleich kritisch an Vorstellungen der christlichen
Religion erinnernde) Version lautet: „Ein Herz wie meins, / Sich des Bedräng-
ten zu erbarmen“ (V. 27 f.). Drittens übernimmt Goethe die aischyleische Vor-
stellung des alles, selbst die Gottheit, bestimmenden Schicksals, der Moira,
auf die auch N. abhebt (68,11). Die entsprechenden Verse Goethes lauten: „Hat
nicht mich zum Manne geschmiedet / Die allmächtige Zeit / Und das ewige
Schicksal, / Meine Herrn und deine?“ (V. 43-46). Insofern ist auch bei Goethe
der schöpferische Mensch, obwohl er sich gegenüber der transzendenten Gott-
heit für autonom erklärt, nicht vollständig autonom. Mit der Moira hängt die
sowohl von Aischylos wie von Goethe exponierte „Zeit“ eng zusammen, der
alles unterworfen ist: Der Prometheus des Aischylos hat ein Vorauswissen vom
Sturz des Zeus, Goethes Prometheus weiß ebenfalls, daß die Zeit sogar über
die Gottheit „Herr“ ist, was im Horizont des aufgeklärten Bewußtseins (vgl.
die 2. Strophe) nur heißen kann: auch religiöse Vorstellungen sind historisch
bedingt. Das Moment des Wissens und Vorauswissens kommt nur dem Prome-
theus des Aischylos zu, und dies nicht - wie N. schreibt - weil er als „titani-
scher Künstler“ mit „höherer Weisheit“ ausgestattet ist (68, 21-24), sondern
aufgrund seines konkreten Vorauswissens.
 
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