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206 Die Geburt der Tragödie

Den Weg von der Sprachwissenschaft zur Rassenideologie behandelt Ruth
Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, München 1985.
Eine wichtige Station auf dem Weg vom christlichen Antijudaismus zum rassis-
tischen Antisemitismus war der 1853-1855 veröffentlichte Essai sur l’inegalite
des races humaines des Grafen Gobineau, der die arische Rasse als die einzig
wahrhaft schöpferische darstellt. Beliebt war in der Folge die Hervorhebung
der Qualitäten der arischen Rasse und die Abqualifizierung der semitischen
Rasse. Diese zeigt sich bei N. noch auf der gleichen Seite (69, 18-30), und sie
geht auch aus seinen Briefen in diesen Jahren hervor, so schon in der Studen-
tenzeit aus einem Brief an Mutter und Schwester vom 22.4.1866, KSB 2, Nr. 502,
S. 125, Z. 43 f.: „Endlich habe ich mit Gersdorff eine Kneipe gefunden, wo man
nicht Schmelzbutter und Judenfratzen zu genießen hat“; an Hermann Mus-
hacke am 27.4.1866, KSB 2, Nr. 504, S. 127, Z. 43-S. 128, Z. 44 „und wo man
hinsieht Juden und Judengenossen“; an Gustav Krug am 24. Juli 1872, KSB 4,
Nr. 242, S. 30, Z. 48 f., angesichts der Attacke von Wilamowitz: „Welch übermü-
thig-jüdisch angekränkeltes Bürschchen“; an die Mutter am 1.10.1872, KSB 4,
Nr. 257, S. 55, Z. 96-98: „Dann esse ich in meinem Hotel, wo ich bereits einige
Gefährten für die morgende Splügentour vorfinde: leider darunter einen
Juden.“; an Carl Fuchs, wohl Februar-März 1874, KSB 4, Nr. 342, S. 194, Z. 18
u. S. 195, Z. 21: „man muss nur wenig begehren und sich eine Aufgabe stellen,
bei der man gar nicht mehr versucht ist, auf den unruhigen Bildungs-Juden-
Pöbel und die ganze anerkannte Öffentlichkeit hinzusehen.“ Wagner, der 1850
seine Schrift Über das Judenthum in der Musik veröffentlicht hatte, publizierte
1869 zum zweiten Mal dieses antisemitische Pamphlet im unmittelbaren Vor-
feld von N.s Geburt der Tragödie. Auch die von N. verehrte Cosima Wagner
war eine fanatische Antisemitin. N.s ,Arisierung4 des griechischen Prometheus-
Mythos steht in diesem Kontext, obwohl er als Altphilologe gewußt haben
muß, daß die Griechen kulturell fundamentale Güter von den semitischen Phö-
niziern übernommen haben, darunter (im 8. Jahrhundert v. Chr.) das Alphabet,
und obwohl er wußte, daß aufgrund der von den Phöniziern stammenden kul-
turellen Errungenschaften der ,Europa4 genannte Erdteil seinen Namen von der
phönizischen Prinzessin Europa hat.
Noch in der Zeit zwischen Herbst 1885 und Herbst 1886 findet sich ein
Nachhall von N.s früher Interpretation des Prometheus-Mythos (NL 1885/1886,
KSA 12, 2[114], 119, 23-25): „Die Idealisirung des großen Frevlers (der Sinn
für seine Größe) ist griechisch; das Herunterwürdigen, Verleumden, Verächt-
lichmachen des Sünders ist jüdisch-christlich“. Doch hatte N. zwischen Herbst
1885 und Frühjahr 1886 einen antirassistischen Standpunkt bezogen (NL 1885/
1886, KSA 12, 1[153], 45, 10 f.): „NB. Gegen Arisch und Semitisch. / Wo Rassen
gemischt sind, der Quell großer Cultur“.
 
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