Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
246 Die Geburt der Tragödie

die Einladung des Makedonenkönigs Archelaos an, an dessen Hof zu kommen.
Denn mit seinen oft kritisch-skeptischen, dem Geist der griechischen Aufklä-
rung entsprechenden Stücken hatte er in Athen nicht den erhofften Erfolg
gefunden, der ihm erst nach seinem Tod in hohem Maße zuteil wurde. Als er
im Winter 407/406 starb, hinterließ er seine beiden zuletzt geschriebenen Dra-
men: Iphigenie in Aulis und die Bakchen.
Der im 19. Jahrhundert verbreiteten und auch von Jacob Burckhardt und
N. übernommenen Interpretation zufolge widerrief Euripides in seinem letzten
Werk seinen früheren aufklärerischen (antidionysischen) Standpunkt, um dem
Gott Dionysos zu huldigen, der als Hauptfigur schon im Prolog auftritt und
dann das ganze Geschehen bestimmt. Insgesamt ist dieses letzte Drama des
Euripides eine zentrale Quelle für die Kenntnis des Dionysosmythos, weil es
ihn wie kein anderes antikes Werk in Szene setzt. Für N. bildet es - in seiner
Interpretation - einen wichtigen Hintergrund für die Konzeption der Tra-
gödienschrift und insbesondere für seine Konzeption des Dionysischen. Dies
gilt auch für die Partien, in denen er sich nicht ausdrücklich auf die Bakchen
bezieht. Im Jahr 1870 hatte er am Basler Pädagogium die Bakchen mit seinen
Schülern gelesen. Er notierte: „Die Bacchen des Euripides haben nach der Aus-
sage meiner Schüler einen starken Eindruck gemacht und Lust erweckt“ (NL
1870, KSA 7, 4[9], 91,17 f.). In der Abhandlung Die dionysische Weltanschauung,
einer Vorstufe von GT, zieht er ausführlich die Bakchen heran. Die blutigen
Greuel, die Dionysos in dieser Tragödie verursacht, konnten N. in seiner Gleich-
setzung des ,Dionysischen4 mit der von Schopenhauer übernommenen
Anschauung vom „Urschmerz“ und von den Schrecknissen und Leiden des
Daseinsgrundes bestärken. Nicht ganz sicher war er allerdings mit der Wider-
rufsthese, die ja nicht auf einen bloß rauschhaften Dionysos zielt, sondern
einen gewalttätigen und grausam zerstörerischen Dionysos miteinschließt.
Deshalb schreibt er: „Das Urtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias
scheint [!] auch das Urtheil des greisen Dichters zu sein“ (82, 19-21). Dies ist
offenkundig unmöglich, da Euripides Kadmos und Teiresias als charakterlos
anpassungsbereite Opportunisten darstellt. Auch die sofort anschließende
inhaltliche Füllung dieses „Urteils“ hat nur einen scheinbaren Anhaltspunkt
im Text: „das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe jene alten Volkstradi-
tionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um“ (82,
21-23). In den Bakchen sagt Teiresias (V. 200-203):
Wir wollen nicht vernünfteln mit Gottheiten.
Die Überlieferung der Väter, die wir Alten
Besitzen, stößt kein Gedanke um,
Auch nicht, wenn durch Scharfsinn das Weise sich findet.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften