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248 Die Geburt der Tragödie

und sinnlos gewalttätig, womit er an die Götter in einer Reihe früherer Tragö-
dien erinnert. Die Bekehrungsthese muß auch daran scheitern, daß Euripides
in allernächster zeitlicher Nachbarschaft zu den Bakchen mehrere von pessi-
mistischer Skepsis und Kritik erfüllte Tragödien schrieb: zwei Jahre zuvor den
Orestes und dann die Iphigenie in Aulis. Der schon über Siebzigjährige hätte
also innerhalb kürzester Zeit seine Grundanschauungen vollständig ändern
müssen! Auch offenbart der Dionysosgegner Pentheus trotz seines Anspruchs
auf rationale Überlegenheit weniger eine aufgeklärte als eine konservativ auf
rigorosen Ordnungsvorstellungen und auf Vorurteilen, etwa gegenüber Frauen
und „Barbaren“ (d. h. Fremden) beruhende Haltung. Gerade solche Vorurteile
hatte Euripides in seinen früheren Tragödien jedoch immer wieder bloßgestellt.
Euripides konzipierte die Bakchen als ein aktuelles, zeitdiagnostisches
Werk. Obwohl er den Dionysos-Mythos reichlich mit den überlieferten Vorstel-
lungen, ja oft geradezu archaisierend reinszeniert, macht er ihn transparent
auf die als pathologisch und desaströs wahrgenommene Situation Athens
gegen Ende des Peloponnesischen Kriegs. Die Überlieferung von der Ankunft
des Dionysos in Theben wird zur Metapher einer kollektiven Enthemmung,
der auch Thukydides die Schuld an Athens Untergang zuschreibt. Nicht an
einheimische „alte Volkstraditionen“, wie N. meint, denkt Euripides, sondern
ganz im Gegenteil betont er schon im Einzugslied des Chors das Fremdartig-
Orientalische des in eine mythische Vergangenheit zurückversetzten und - in
dieser Vergangenheit - neuen Dionysos-Kults. Euripides psychologisiert seinen
Dionysos. Er fanatisiert die Anhänger, hier das willenlos ihm verfallene Kollek-
tiv des Chors, und vernichtet die Gegner, indem er sie bei ihren eigenen
Beschränktheiten und Schwächen faßt und in die Selbstzerstörung treibt. Alle
Schranken der rational gestützten Norm durchbricht er bis zur Erzeugung von
Wahnvorstellungen, die in unmenschliche und tödliche Exzesse ausarten -
kein Anlaß, sich hierzu zu bekehren und frühere Positionen zu „widerrufen“.
Doch erhält die problematische Bekehrungs- und Widerrufsthese in der
Gesamtkonzeption der Tragödienschrift eine übergeordnete Funktion insofern,
als N. damit auf die Aktualität der eigenen Zeit zielt. In dem vermeintlichen
Widerruf des Euripides sieht er das psychologische Grundmuster beispielhaft
vorgebildet, auf dessen Wirksamkeit er im Hinblick auf die aufgeklärte mo-
derne Zivilisation hofft: Rationalität soll aus Überdruss an sich selbst ins Irra-
tionale umschlagen, in den neuen „Mythos“, als dessen Repräsentanten er
Wagner feiert. Nach dem gleichen kulturpsychologischen Grundmuster for-
miert er auch Sokrates. Dieser, der in N.s Sicht ähnlich wie Euripides einseitig
die rationale Sphäre vertritt, treibt am Ende Musik. Das dem vermeintlichen
Widerruf des Euripides analoge „Umschlagen“ im Verhalten des Sokrates the-
matisiert N. später (102, 10), um damit ausdrücklich Aktualität zu beanspru-
 
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