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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 82-83 249

chen: „Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegen-
wart und Zukunft“ (102, 9 f.).
82, 28 schliesslich in einen Drachen verwandle] Dionysos verkündet in seinem
Strafgericht über die Thebaner, die sich der Einführung seines Kults widersetzt
haben, auch ihr Herrscher Kadmos (obwohl er sich zusammen mit dem Seher
Teiresias dem neuen Kult opportunistisch angepaßt hat) müsse Leiden erdul-
den: er müsse die Stadt verlassen und werde wie seine Gattin Harmonia in
eine Schlange verwandelt (Bakchen, V. 1330 f.).
82, 28-32 Dies sagt uns ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben
hindurch dem Dionysus widerstanden hat - um am Ende desselben mit einer
Gloriflcation seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufbahn zu schlies-
sen] Dafür daß der Dichter lebenslang dem Dionysos widerstanden habe, gibt
es keinen Anhaltspunkt, es sei denn, man faßt Dionysos nicht im eigentlichen,
sondern im übertragenen Sinn als Repräsentanten des Irrationalen auf, dem
Euripides mit seiner rational-aufklärerischen Geisteshaltung widerstanden
habe. Auch hat Euripides nicht „Selbstmord“ begangen, weshalb diese Aus-
sage nur - unter der Voraussetzung von N.s problematischer, mit der damals
gängigen Auffassung des Stücks übereinstimmender Interpretation der Bak-
chen als eines „Widerrufs“ - im Sinne eines geistigen Selbstmordes verstanden
werden kann. Darauf deutet auch die Vorstufe hin, in der es heißt: „er opfert
sich am Schluß desselben [seines Lebens] gleichsam selbst, indem er sich in
die vorgestreckten Speere der feindlichen Macht wirft“ (KSA 14, 51). Von einer
„Glorification“ des Dionysos in den Bakchen kann keine Rede sein, denn er
erscheint, gerade auch wenn er seine Gegner besiegt, als grausamer Dämon,
der durch sein Verhalten den Anspruch auf eine moralisch akzeptable Göttlich-
keit dementiert.
82, 34-83,1 Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Ten-
denz] In der Vorstufe heißt es: „seine eigne Tendenz: er selbst läßt sich in ihr
als Pentheus von den Mänaden zerfleischen und verherrlicht auf seinen eignen
zerfetzten Überresten die Allmacht des Gottes. So vollzieht der Dichter seinen
Widerruf mit der selben erschreckenden Energie, mit der er bis dahin gegen
Dionysus angekämpft hatte“ (KSA 14, 51).
83, 7-9 ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue
Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische] Bei Platon beruft sich Sokrates
auf seine innere Stimme (phone), die ihm sage, wie er sich zu verhalten habe:
auf sein ,Daimonion4 (Die Verteidigung des Sokrates, 31 c-d). In Anspielung auf
dieses ,Daimonion4 spricht N. - statt vom „Dämon“ des Sokrates - vom
„Dämon“ Sokrates, und er verleiht ihm eine ganz andere Bedeutung: nicht
 
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