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250 Die Geburt der Tragödie

eine ethische, sondern eine rationale. Er erscheint bei ihm geradezu als von
Rationalität besessen und insofern ,dämonisch4. Allerdings ist Platons Sokrates
kein Rationalitätsgläubiger, kein Wissensoptimist, wie ihn N. im Folgenden
erscheinen läßt. Dies bezeugt schon das berühmte sokratische Paradox in der
Verteidigung des Sokrates, wo er ironisch sagt, er wisse, daß er nichts wisse
und stimme insofern mit dem delphischen Orakel überein, das auf Anfrage
mitgeteilt habe, niemand sei weiser als Sokrates. N.s vereinfachende Stilisie-
rung des Sokrates ist ganz von der Intention bestimmt, mit dem „Sokratischen“
einen Gegenbegriff zum ,Dionysischen4 zu schaffen.
Allerdings konnte N. schon in Schopenhauers Parerga und Paralipomena I,
in dem Kapitel ,Fragmente zur Geschichte der Philosophie4, eine skeptische
Hinterfragung des Sokrates finden. Der § 3, ,Sokrates4 überschrieben, beginnt
mit den Sätzen: „Die Weisheit des Sokrates ist ein philosophischer Glau-
bensartikel. Daß der platonische Sokrates eine ideale, also poetische Person
sei, die platonische Gedanken ausspricht, liegt am Tage; am Xenophontischen
hingegen ist nicht gerade viel Weisheit zu finden44. Indem N. an der hier zu
erörternden Stelle und im Folgenden, insbesondere im 13. Kapitel Sokrates zum
Rationalisten abstempelt, überträgt er Schopenhauers kritische Darstellung
Platons im alsbald folgenden § 4 der Parerga und Paralipomena I auf Sokrates.
Er übernimmt den zentralen Gesichtspunkt: den „Rationalismus der Erkennt-
nißtheorie“ (Schopenhauer spricht in diesem Sinn auch von „Dianoiologie“),
nicht aber den von Schopenhauer bei Platon festgestellten „metaphysischen
Endzweck“ dieser rationalistischen Erkenntnistheorie. Schopenhauer beginnt
seine Darstellung Platons mit folgender Erklärung:
Schon beim Plato finden wir den Ursprung einer gewissen falschen Dianoiologie, wel-
che in heimlich metaphysischer Absicht, nämlich zum Zweck einer rationalen Psychologie
und daran hängender Unsterblichkeitslehre, aufgestellt wird. Dieselbe hat sich nachmals
als eine Truglehre vom zähesten Leben erwiesen; da sie, durch die ganze alte, mittlere
und neue Philosophie hindurch, ihr Daseyn fristete, bis Kant, der Alleszermalmer, ihr
endlich auf den Kopf schlug. Die hier gemeinte Lehre ist der Rationalismus der Erkennt-
nißtheorie, mit metaphysischem Endzweck. Sie läßt sich, in der Kürze, so resumiren. Das
Erkennende in uns ist eine, vom Leibe grundverschiedene immaterielle Substanz, genannt
Seele: der Leib hingegen ist ein Hinderniß der Erkenntniß. Daher ist alle durch die Sinne
vermittelte Erkenntniß trüglich: die allein wahre, richtige und sichere hingegen ist die
von aller Sinnlichkeit (also aller Anschauung) freie und entfernte, mithin das reine
Denken, d. i. das Operiren mit abstrakten Begriffen ganz allein. Denn dieses verrichtet
die Seele ganz aus eigenen Mitteln: folglich wird es am besten, nachdem sie sich vom
Leibe getrennt hat, also wenn wir todt sind, von Statten gehn. - Dergestalt also spielt
hier die Dianoiologie der rationalen Psychologie, zum Behuf ihrer Unsterblichkeitslehre,
in die Hände. Diese Lehre, wie ich sie hier resumirt habe, findet man ausführlich und
deutlich im Phädo Kap. 10.
 
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